Was ist das ICH - und was tut es?

Situationsdynamik bemüht sich in der Arbeit im Ich-Aspekt um beobachtende Distanz zu vertrauten psychologischen, philosophischen und theologischen Konstruktionen des so genannten Individuums, einer unsterblichen Seele oder eines womöglich lebenslänglich stabil existierenden Ego. Es ist also hier nicht unbedingt nötig, strittige Diskussionen um den potentiellen Wirklichkeitsgehalt eines Selbst oder anderer Identitätskonzepte vom Zaun zu brechen. Nach Verabschiedung bewährter Konzepte bleibt dann allerdings nichts anderes übrig, als auf der Basis beobachtbarer Bewegungen eines bloß leiblich anwesenden Ich in seiner Welt zu arbeiten.

Dann verhält man sich beobachtender Weise gewissermaßen dumm, indem man sich weigert, so wie bisher bekannt oder so wie vorgeschlagen zu beobachten und zu verstehen. Dadurch erst entsteht nach meiner Erfahrung die Chance, dass die leibhaftige Existenz wieder in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken kann. Aber das ist vermutlich leichter gesagt als getan. Es fällt schwer, auf vertraute und bewährte Ideen und Deutungen zu verzichten. Sie werden mir als erstes einfallen und ich werde mich auch darauf beziehen, wenn ich keine genügend gewichtige Alternative dazu finde. Wenn jemand in meiner Gegenwart gähnt, fallen mir sowohl aus der Sicht als Freundin als auch als Leitung einer Bildungsveranstaltung immer noch und sofort folgende Deutungen ein: „Die/der ist sicher müde!“ Und gleich als nächste: „Oje, oder langweilt sich der/die hier mit mir?“

Punktgenau kann ich mich dann entscheiden, WAS ich wissen möchte, wonach ich also fragen könnte, wofür ich mich jetzt interessieren, wie ich jetzt beobachten möchte. Und dann ist es möglich, den alten Spuren nicht zu folgen, die alten Fragen nicht zu stellen, sondern mit allen Sinnen anders zu schauen: Aha, diese Person gähnt ausgiebig, reckt sich dabei wie eine Katze nach dem Sonnenbad …, lächelt daraufhin… Das interessiert mich. Was erlebt sie wohl gerade? Ach, ich könnte sie ja mal fragen.…

Alles das, was das Ich tut und unterlässt, könnte man dann als Grundlage für leibbezogene Beobachtungen in der Situation benennen. Beobachtbar sind Handlungen aller Art, Bewegungen, Gestik und Mimik, nonverbale, paraverbale und verbale Kommunikation. Sich selbst und andere in Situationen zu beobachten, scheint uns sehr vertraut zu sein. Wir erleben, beobachten, erklären uns und die Welt und uns in der Welt - und erleben, beobachten, erklären daraufhin erneut, wie zuvor oder eventuell eben anders. Um das Erklären scheinen wir so offensichtlich nicht herumzukommen, dass es sogar Erklärungen für dieses fortlaufende Erklären gibt. Sie finden sich nicht nur im bekannten Thomas-Theorem (s. 1).

Menschen brauchen Erklärungen ihrer Situation, um Ereignissen Sinn zuschreiben zu können, um Ereignisse als Bestandteile ihrer sozialen Wirklichkeit aufnehmen zu können. Sie folgen dabei ihrer je eigenen Lebens- und Erklärungslogik mit all ihren Chancen und Gefahren. Und vermutlich geht es dabei gar nicht so sehr um die Lust an sich selbst erfüllenden Prophezeiungen.„ Wir erzählen uns selbst und uns gegenseitig ständig, wie die Welt ist, und halten sie damit stabil.

‚Menschen sind unverbesserliche und geschickte Geschichtenerzähler, und sie haben die Angewohnheit, zu den Geschichten zu werden, die sie erzählen. Durch Wiederholung verfestigen sich Geschichten zu Wirklichkeiten, und manchmal halten sie die Geschichten-ErzählerInnen innerhalb der Grenzen gefangen, die sie selbst erzeugen halfen‘.“ (s. 2)

Art und Qualität der Wahrnehmung, Beobachtung und Erklärung von Situationen sind zugleich immer abhängig von einander wahrnehmenden Menschen. Ebenso sind Beobachtung und Deutung von Situationen abhängig von historischen, politischen und kulturellen Gegebenheiten sowie von Philosophien (Einstellungen und Idealen) und den Glaubenssystemen aller an der Situation und ihrer Definitionen Beteiligten. So entpuppt sich der hier und jetzt leiblich präsente Mensch als derjenige, der die Welt in die Situation hineinträgt (s. 3) und diese seine Welt hier und jetzt aktualisiert. In der Situation vollzieht sich also die leibhaftig im Menschen sich konzentrierende Welt.

Unfassbar, könnte man respektvoll sagen - und davon ablassen, dieses Ganze erklären zu wollen, was wie im Bild vom Bett des Prokrustes (s. 4) die Wirklichkeit des anderen immer nur verkürzen oder zerdehnen, jedoch nicht erfassen könnte. Auch deshalb empfiehlt es sich, zur Beobachtung leiblicher Erzählungen zurückzukehren. Auch weil es in der europäischen Kultur eine ausgeprägte Tendenz gibt, sich aus der Leibhaftigkeit des Daseins in geistvolle Konzepte und Theorien vom Ich zu verflüchtigen, die das leibliche Dasein nicht mehr wesentlich dem Ich-Sein zugrunde legen, bevorzugt SD eine leibbezogene situative Betrachtung des Ich in seiner Situation.

Auch hier stellt sich situatives Beobachten quer zum System (dem psychischen, sozialen, ideellen, politischen usf.) mit allen immer auch bewährten Festlegungen. Sogar ob sich solche Festlegungen eher wie ein zäher, klebriger Brei oder starr wie aneinander fest gerostete Metall- Streben anfühlen, kann im leiblichen Querstellen spürbar werden. Es befördert also auch eine bildhafte Wahrnehmung von sonst eher abstrakt wirkenden Begriffen.


aus: "Situationsdynamik - Guck doch mal, wie Du guckst! Wer situativ beobachtet, weiß weniger und sieht mehr...", S. 44 ff., Saarbrücken, 2011  

Christiane Schmidt, Supervisorin (SD), Trainerin (SD)

1. Thomas-Theorem: „Annahme, der zufolge Menschen so handeln, wie sie eine Situation sehen (definieren), ohne dass sie auch so sein müsste. „If men define situations as real, they are real in their consequences“, Lexikon zur Soziologie, Opladen, 1978, S. 786
2. Efran et al., 1992 in A. v. Schlippe, J. Schweitzer, „Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung“, Göttingen, 1998, S. 95
3. www.Situationsdynamik.de, Interview H. Euschen, „Annäherung an Intentionalität“
4. R. v. Ranke-Graves, „Griechische Mythologie“, Hamburg, 1984, S. 299: Prokrustes, ein Riese, lebte an der Straße, hatte zwei Betten und bot Reisenden eines davon als Nachtlager an. Er gab ihnen das große, wenn sie klein waren und zog sie in die Länge. Waren sie groß, gab er ihnen das kleine und schnitt ihnen die Füße ab.