Leibliches Leben - Von Spuren und Fassaden

Das Ich kommuniziert im leiblichen Ausdruck seiner Definition der Situation immer auch seine Biographie. Es drückt sein So-Geworden-Sein und sein Werden auch nonverbal fortwährend aus. Wer sich dafür entscheidet, die Biographie nur als den Lebenslauf zu betrachten, mit dem man sich möglichst vielversprechend unter Auslassung schmerzlicher oder dunkler Kapitel seines Lebens in Bewerbungen verkauft, wird in einer Bewerbungssituationen - und manchmal auch weit darüber hinaus! - gute Gründe dafür haben, genau so und nicht anders vorzugehen. Die Spuren leiblich gelebten Lebens präsentieren wir vielleicht noch unbefangen unseren Liebsten, den uns Nächsten in der Familie oder im engen Freundeskreis, notfalls dem Arzt, wenn es unbedingt sein muss. Dann ist im allgemeinen Schluss damit. Der Leib bleibt unter Verschluss, sobald wir öffentlich kommunizieren, spätestens aber sobald wir in Institutionen mit Kollegen, Kunden oder gar Vorgesetzten kommunizieren.

Aber auch dieses öffentlich verschlossen gelebte Leben hinterlässt seine leiblichen Spuren. Es schreibt sich dem Leib ein. Diese Bedeutung steckt auch in dem Wort Biographie, zusammengesetzt aus den griechischen Worten bios für Leben und graphein für schreiben. Unsere Lebensspur schreibt sich in die leibliche Erinnerung ein, die jeden nächsten Schritt mitgestaltet, ob wir nun von ihr wissen oder nicht oder ob wir von ihr lieber nicht wissen wollen. So oder so, diese leiblich geprägte Spur führt uns auf ganz eigene Art durchs Leben. Wie kommt es dann, dass wir im alltäglichen Leben so selten von ihr wissen wollen? Befassen wir uns nicht so gern mit leiblicher Erinnerung? Ist es nur deshalb, weil es uns schon in der Kindheit abgewöhnt wurde (z. B. leidenschaftliche Furz-Konzerte unter Freunden zu veranstalten und vieles andere mehr…)?

Es scheint dafür auch andere Hintergründe zu geben: Leibliche Erinnerung ist immer auch schmerzliche und letztlich sterbliche Erinnerung. Der Moment, in dem Mephistopheles (in Goethes „Faust, der Tragödie erster Teil“) zu Faust sagt: „O glaube mir, der manche tausend Jahre an dieser harten Speise kaut, dass von der Wiege bis zur Bahre kein Mensch den alten Sauerteig verdaut!“ halte ich für eine vortreffliche Formulierung dieser bildlich betrachteten existenziellen Torpfosten, zwischen denen das Leben ausgespannt ist und sich entfaltet. Das hat so etwas Bitter-Süßes wie Bitter-Schokolade, wie Georg Kreislers Lieder in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts, wie tragische Welt-Ereignisse sich als Geburtsstätte des Galgenhumors erweisen, wie sich Menschen ihre Fluchtwege auch mittels diverser Genussmittel aus dem Erleben leiblicher Begrenzung und jeglichem Verdruss heraus bahnen, wie sie mit Hoffnung und Gelächter Trauer und Angst vertreiben.

Alles das findet sich in diesem Spannungs-Bogen ebenso wie sowie die komisch-nüchternen Betrachtungen eines vielleicht doch - oder doch nicht existierenden Jenseits, mit denen sowohl Hoffnungen als auch Befürchtungen kanalisiert werden. Auch und gerade in Trinksprüchen kann man leibbewusste Sprache wieder finden. Sie können aus leiblicher Perspektive existenzieller Ausgespanntheit zwischen Sein und Möglicherweise Demnächst-Nicht-Mehr-Sein aufschlussreicher sein als mancher philosophische Exkurs: „Von der Wiege bis zur Bahre … ist der Suff das einzig Wahre!“ „Der Kopf tut weh, die Füße stinken. Höchste Zeit, ein Bier zu trinken!“ „Trink, wenn Dir der Becher winkt. Nutze Deine Tage. Ob man auch im Himmel trinkt, ist noch eine Frage.“ „Als Moses an die Berge klopfte, gleich Wasser aus dem Felsen tropfte. Doch viel größer ist das Wunder hier. Man ruft nur Wirt und schon kommt Bier!“(s. 1)

Naja? Sind solche Sprüche banal? frivol? blöd? Zumindest gibt es hier sehr präsente FÜSSE! Die tragen uns durchs ganze Leben. Meist beschäftigt man sich aber erst dann mit den Füßen, wenn sie das nicht mehr tun! Vielleicht rührt der Geschmack des Frivolen oder Banalen auch daher, dass es hier um Phänomene geht, an die wir nicht rühren möchten. Es haben sowieso die wenigsten Menschen noch irgendeine Erinnerung an die Krise ihrer Geburt - und vor dem Sterben fürchtet sich wohl jeder mehr als vor dem Tot-Sein, denn wir haben keine Ahnung, wie es sein wird. Aber man redet eben nicht darüber, außer manchmal, wenn alle etwas zu viel getrunken haben. Dann lockern sich die Fesseln. Allerdings sind auch das Lebens-Ereignisse, die alle Menschen leiblich mit allen Konsequenzen betreffen, auch wenn wir letztlich dazu nur Vermutungen anstellen können. Trotzdem ist es doch erstaunlich häufig zu beobachten, dass Menschen sich so verhalten, als hätte es nie einen Startschuss gegeben (man hat schließlich nicht darum gebeten!) und als könne man auf ein Ziel zustreben, das nicht der Tod sein wird (man wurde schließlich vorher nicht aufgeklärt und hat keine Wahl!).

Man könnte es auch so sehen, als blieben diese denkfähigen Lebewesen namens Menschen lebenslänglich auf der Flucht vor ihrem Geworfen-Sein in diese Welt, das ihre Autonomie zugleich begründet und beendet. Sie beschäftigen sich nicht gern mit leiblichen Ereignissen, über die sie keine Kontrolle haben. Es sei denn, es sei ihr Beruf, stellvertretend diese unkontrollierbaren Phänomene in einer gewissen Ordnung handhabbar zu machen, wie es Hebammen, Krankenpflegende und ÄrztInnen, PhilosophInnen, SeelsorgerInnen, Bestattungsunternehmen und Friedhofs-MitarbeiterInnen freundlicherweise im Dienst an ihren Mitmenschen tun. Man könnte aber auch darangehen, diese permanenten Bewegungen menschlichen Überlebens inmitten unabwendbarer Krisen einfach mal als solche zu beobachten. Man könnte es auch als Wunder betrachten, dass trotz des unerbetenen Geworfen- Seins, trotz aller Unsicherheit und Bedingtheit der Mensch sich in diesem Leben, in diesem fortwährenden Aufenthalt zwischen Geburt und Tod doch ausgesprochen behände bewegt und gelernt hat, sich zugunsten seiner Beweglichkeit allzu große Beunruhigungen seines Daseins möglichst vom Leibe zu halten.

In der Beobachtung hier und jetzt mag sich dann zeigen, wie tätig das Ich in seiner Lebenssituation mit einem ebenso widersprüchlichen wie erforderlichen Prozess von Bewahren, Vergessen und Verändern beschäftigt ist. Als sammelte es die Lebensspur von sich selber auf und als versuchte es, sie sowohl kommunizierend mitzunehmen als auch sie entsprechend einer ersehnten, erträumten Zukunft immer weiter tätig zu verwandeln. Das scheint sich in einer ganz eigenen Dynamik zu vollziehen, die sich im Hier und Jetzt, im Innehalten, in der Beobachtung seiner Selbst, als ein ständiges Strömen von Vergangenheit durch die Gegenwart in eine mehr oder weniger deutlich imaginierte Zukunft (und wieder zurück) äußern kann. Während man dann darüber nachdenken mag, ob es sich dabei um lineare oder kreisförmige Bewegungen des Ich in der Zeit handelt, bleibt der Leib auf dem Boden. Es bleibt ihm gar nichts anders übrig. Und er sammelt und wandelt sich mit. Manchmal läuft er im Kreise, manchmal eine Acht und manchmal geradeaus.

Unterdessen studieren wir die Wandlungen, die uns der Spiegel im Vorübergehen zeigt, auch nicht so gern. Im höflichen sozialen Kontakt vermeidet man solche Aussagen unter Erwachsenen jedenfalls. Nur Kindern erklärt man ausdauernd und mit großem Erstaunen, wie sehr sie schon wieder gewachsen seien! „Ich hätte Dich ja kaum wiedererkannt!“ Wenn ich mir nun vorstelle, der Großmutter bei unserer nächsten Begegnung staunend zu erklären, dass sie ja schon wieder zwei Zentimeter in den Boden gewachsen ist, bin ich mir nicht ganz sicher, welche Folgen das nach sich ziehen könnte. Da begibt man sich auf unsicheres Terrain. Eines zumindest scheint mir sicher zu sein: In dem Moment, da das Ich seine leiblich ausgesendeten und wiederum an seinen Leib gerichteten Botschaften als solche wahrnimmt und ausdrückt („Oh, ich habe Herzklopfen, wenn ich Dich sehe!“), gelangt diese Kommunikation ziemlich sicher auch auf einen hier und jetzt vorhandenen leiblich präsenten sozialen Hier-und-Jetzt-Boden („aha?!?“). Ein solcher mitgeteilter Kommunikationsboden kann sich als wesentlich aussagekräftiger erweisen als alle Diskussionen über vernünftige, auch religiöse und philosophische Ideen, die häufig stellvertretend für leibliches Erleben herangezogen werden.

Leibbezogene Kommunikation ist konkret, reich an Bildern und Geschichten, emotional. Sie lädt zum Erinnern und zum Erzählen ein. Solche leibliche Kommunikation kitzelt einen an Orten, wo man sich selbst nicht kratzen kann, vornehmlich in der Zwerchfellgegend. Gelächter ist dann nach meiner Erfahrung oft das Heilmittel der Wahl. Manches Mal wird gelacht, bis die Tränen kommen und man weiß dann manchmal gar nicht mehr, ob man lachend weint oder weinend lacht. So nahe und so friedlich können in der leiblichen Kommunikation die Extreme beieinander wohnen. Allerdings ist auch bei dieser Kommunikation eine lebensgeschichtliche Logik zu be(ob)achten, die sich je nach Kontext davor hüten wird, in einen wesentlichen Widerspruch zu den Grenzen leiblich erlaubter Kommunikation zu geraten. Denn der Leib bleibt ja eher unter Verschluss, je öffentlicher wir kommunizieren. Und wir haben alle unsere nachvollziehbaren Hinter-Gründe, die uns daran hindern, an diesen Grundfesten sozialen Sollens zu rütteln.

So bleibt dann nicht die Frage, ob die Menschen denn überhaupt noch bereit sind, sich mit dieser Basis ihres Daseins zu beschäftigen, sondern vielmehr die, welche Lebens-Räume es gestatten bzw. welche Räume wir einrichten könnten, um auch der leiblichen Kommunikation die ihr gebührende Aufmerksamkeit widmen zu können. Situationsdynamische Arbeitspraxis bezieht sich nicht nur, aber doch häufig auf berufliche, folglich öffentliche, formale, institutionelle Kommunikation. Auch hier stellt sich die aus meiner Sicht angemessene Frage anders: Wie kann man in diesen Zusammenhängen auf institutionell gebotene Leibverbotenheit und Leibvergessenheit (s. 2) reagieren, ohne dabei die Grenzen derer zu verletzen, die auch in Bildungs- und Beratungsprozessen auf die Erhaltung ihrer Grenzen angewiesen sind?

Zum einen kann man sich darum bemühen, eine leibbewusste Sprache zu schaffen, wobei die Möglichkeiten und Grenzen solcher Sprachfindung immer von dem System gesteuert werden, das diese Sprache entwickelt und spricht. Zum anderen beachten und beobachten diejenigen, die sich auf dieses professionelle Arbeiten im Ich-Aspekt der Situation verstehen, auch als krankhaft aufgefasste (z. B. psychosomatisch genannte) Symptome als ebenso gültige leibliche Sprache wie Mimik, Gestik und auch unwillkürliche Körpergeräusche und -signale, die in manchen Kommunikations-Kulturen von vorn herein als nicht relevant oder störend ausgeschlossen sein mögen. Beobachtungen dieser Art ohne Bewertung beizusteuern, kann bereits als leibpräsentes kommunikatives Angebot verstanden und aufgegriffen werden. Schon dieses Angebot kann Leibvergessenheit verringern. Jedoch bleibt es bei allen professionellen Bemühungen, leibbewusste Kommunikation zu fördern, immer den KlientInnen-Systemen überlassen, ob und wie sie beobachtete Phänomene ihres leiblichen Daseins deuten und behandeln.

Es gibt in den Konzepten der SD jedenfalls meines Wissens kein Interesse, die Menschen über ein besseres Leibverständnis, gesündere Lebensziele und die richtigen Methoden, die angeblich dorthin führen, zu belehren. Allerdings sehe ich die Professionellen, die sich in diesem Bereich betätigen, in der Verantwortung, selbst fortwährend die erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen und zu pflegen, um einer leibpräsenten Kommunikation Raum und Aufmerksamkeit verschaffen zu können. Hier findet also seitens der Profis sehr wohl eine fortgesetzt zu praktizierende Entscheidung statt. Mit ihrem Verhalten, ihrer leiblichen Haltung, der Fokussierung ihrer Aufmerksamkeit und der Art ihres Sprechens machen sie auch implizit in Kommunikationsprozessen im Sinne ihrer leiblich präsenten Haltung fortwährend ein lebendiges Angebot. So können Eutonie-Übungen („Wohlspannung“) im Gehen, Stehen, Sitzen und Liegen erheblich dazu beitragen, ein schmerzendes oder sich langweilendes, ein kompliziertes oder verwirrtes oder verunsichertes Ich vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen, wo es meist verlässlicher als anderswo aufgehoben ist.

Wer in der TrainerInnen-Ausbildung selbst Eutonie-Übungen erlebt hat und diese weiter praktiziert, wird bemerken, dass sich diese vertiefte leibliche Präsenz auch in der verbalen Kommunikation auswirkt, indem entsprechende Erfahrungen und Beobachtungen mit kommuniziert werden. „Wer nicht in sich ist, ist außer sich.“ „Nur wer in sich ist, kann über sich selbst hinaus fühlen“, sind bekannte Aussagen aus der Scharing- Eutonie. Die Aussage „Der Weg wächst unter Deinen Füßen“ macht auf die Füße aufmerksam. Die Füße sind in Eutonie-Übungen elementar: „Das Gesagte und Gemeinte ist eigentlich nur zu verstehen, wenn einem der Leib so bekannt und gegenwärtig ist, dass auch die Füße dabei sind. Meiner Erfahrung nach gibt es kaum Menschen, die z. B. ihre Zehen spüren oder wahrnehmen können, auch nicht, wenn sie hinschauen. Wenn Schmerz durch Erkrankung vorliegt, ist das allerdings wieder anders. Vielleicht ist Schmerz für manche Menschen eine gute Chance, sich mit ihrem Leib zu befreunden.“(s. 3)

So wie hinter der abendländischen tendenziellen Leibvergessenheit historische, kulturelle, religiöse und philosophische Gegebenheiten stehen, kann man hinter Lebenshaltungen, die das leibhaftige Da-Sein und ein gegenwärtiges So-Sein favorisieren, grundlegend andere historische, religiöse und kulturelle Voraussetzungen erkennen. Auch geographisch bilden leibbewusste Welten eine Gegen-Position zur im Westen stärker rationalen Kopfbewusstheit und favorisierten Denkfähigkeit ab. Die Wurzeln präsenten, leibhaftigen Da-Seins sind u. a. in buddhistischen Traditionen Indiens, Chinas und Japans zu finden. Für welche Leibpräsenz pflegende Übung sich Menschen auch immer entschließen mögen, keinesfalls sollten sie dabei die Hintergründe wie Geschichte, Glauben und Kultur der Übung ihrer Wahl vernachlässigen. Wenn ich eine Übung für mich auswähle, die leibliche Präsenz in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt, wird dieser Körper mir vermutlich sehr bald zeigen, ob sie wirklich zu mir passt. Wer Energie investiert, um Körper und Geist als voneinander getrennte Wesen zu behandeln, benötigt eine andere Übung als die buddhistische Meditation, die solche Trennung nicht kennt.

Ich gehe jedenfalls davon aus, dass Leibpräsenz nicht unabhängig von der Biographie, den religiösen, gesellschaftlichen, politischen und historischen Prägungen der um sie bemühten Menschen gepflegt werden kann. Manche Menschen betrachten solche Aufmerksamkeit für das eigene leibliche Dasein vielleicht als grundlegendes Zeichen von nicht akzeptablem Egoismus. Andere verstehen sie als Wurzel geistiger, seelischer und körperlicher Gesundheit oder sogar als das Dasein schlechthin. Da kann es also große Gegensätze geben. In diesem Sinne könnte man auch die akzeptierende Haltung derer verstehen, die gegenüber mehr oder weniger unbekannten Individuen ihr professionelles Angebot realisieren, mit Respekt für jegliche leibliche Präsenz zu kooperieren und zugleich ihre leibliche Präsenz deutlich zu kommunizieren. Das macht sich in der Situation durchaus bemerkbar! Solche Angebote können dazu führen, dass der Wunsch geäußert wird, einen definierten Raum zu öffnen, um Leib-Präsenz üben zu können, z. B. indem sich eine Gruppe interessierter Menschen zu einem Eutonie-Seminar verabredet. Aber auch wenn wir als Profis während der Arbeit nicht immer explizit tanzen, musizieren, meditieren, singen oder pantomimische Begabungen spielen lassen (können), fallen solche Botschaften nach meiner Erfahrung zumindest implizit häufig auf fruchtbaren Boden. Menschen sind immer auch neugierig, sie beobachten, stellen Fragen, orientieren sich und können, wenn sie angemessene Antworten erhalten, mit der Übung ihrer Wahl beginnen, wenn sie das tun möchten.


Von der Not-Wendigkeit der Balance

Wenn man nun dem Ich nun physisch etwas dichter auf den Leib rückt, ist zu beobachten, dass jedes Ich von allen anderen leiblich getrennt ist. Der Leib beginnt mit seiner Haut, wird von ihr begrenzt, wiederum durch Kleidung geschützt und verborgen, er bleibt also immer von allen anderen Leibern distanziert. Dies wird von vielen Menschen so fraglos vorausgesetzt und hingenommen, dass ein solches Für-Sich-Sein, ein so existenzielles Getrenntsein nicht als relevant für das eigene Dasein erlebt wird. Solange jedoch der Mensch nicht spürt, wie leiblich getrennt von allen anderen er ist, kann er umgekehrt auch seine untrennbare Verbundenheit mit allem Existierenden nicht spüren.

Nach meiner Erfahrung ergibt sich ein anderer Zugang zum Ich-Sein in der sozialen Welt, sobald dieses existentielle Getrenntsein leiblich für wahr genommen wird. Dann wird das Ich zum wirklich verantwortlichen Spezialisten für sich selbst, immer die Idee vorausgesetzt, dass das Ich ein sozial abhängiger Spezialist ist. Auch darüber könnte trefflich streiten, wer das für nützlich hält. Ich halte mich aber ganz gern an diese als unausweichlich erlebte gegenseitige Abhängigkeit, die im systemischen Diskurs auch gelegentlich in Form einer rhetorischen Frage formuliert wird: Woher soll ich denn wissen, wer ich bin, wenn man es mir nicht sagt?

Nun komme ich an dieser Stelle doch nicht umhin, auf eine mir biographisch (katholisch) und professionell (als Krankenschwester in einer psychosomatischen Klinik) sehr vertraute Leidensgeschichte einzugehen, die aus sich heraus wiederum Wachstums-Chancen eröffnet: Angesichts der zuvor favorisierten unausweichlichen gegenseitigen Abhängigkeit des Menschen vom Menschen (und vielem anderen mehr) könnte man eigentlich auch die christliche Aufforderung „Liebe Deinen Nächsten...“, deren zweiter Teil „...wie Dich selbst“ immer noch gelegentlich vergessen wird, in anderem Licht betrachten. Diese Aufforderung verliert dann den moralisierenden Geschmack der Verpflichtung zu Selbstlosigkeit oder Altruismus, wenn die ganze Botschaft kommuniziert wird: Man kann seinen Nächsten nicht besser und mehr lieben als sich selbst. Man kann nicht das eine unter Ausschluss des anderen tun. Man kann nicht Mit-Gefühl und Zugehörigkeit entwickeln, solange eigene und fremde leibliche Grenzen und Botschaften nicht deutlich gespürt und gehört werden. Das leibliche Wandeln des Ich in der Welt geschieht so getrennt von anderen, dass es zu seiner Orientierung existentiell eines Gegenübers bedarf. Von gleichem Gewicht ist die eigene Existenz, ohne die kein Gegenüber definiert werden kann.

Man geht also von falschen im Sinne von unlogischen Voraussetzungen aus, wenn man eine Entscheidung zur Nächstenliebe trifft, die Selbstliebe ausschließt. Ohne deutlich spürbares Gegengewicht läuft das Ich Gefahr, sich in Fehleinschätzungen seiner selbst und anderer zu verlieren. Im Banne moralisch verpflichtender Aufforderungen, gern vom häufig christlich-institutionell instruierten Gewissen diktiert, kommen immer wieder Menschen zu dem Schluss, es sei hier eine grundlegende Entscheidung zugunsten eines rein sozial verpflichteten Daseins erforderlich, damit der Mensch ein guter Mensch werden könne. Eine meiner Leidens-Hypothesen hierzu: Solange dieser Regelkreis zwischen persönlichen Gewissensinstanzen und sozialen moralisch werterhaltenden Instanzen ungestört erhalten bleibt, kann die ängstliche Egozentrik solchen Handelns nicht erkannt werden. Unreflektiert und unverstanden unternimmt das Ich unter solchem moralischen Entscheidungsdruck alle seine Anstrengungen womöglich nur, um befürchteten und tatsächlichen Schuldzuweisungen von außen und nagenden Schuldgefühlen von innen zu entgehen.

(Eine meiner Nicht-Leidens-Hypothesen hierzu: Sie werden vermutlich einen Nutzen davon haben, sonst täten sie es nicht… kann ich hier im Moment nicht weiter verfolgen, sonst verliere ich den Faden!)

Psychosomatisch leidende Menschen in psychotherapeutischer Behandlung schildern die Folgen solcher Entweder-Oder-Annahmen im Zusammenhang mit ihren individuellen Geschichten in vielfältigen Variationen, die einander dennoch verblüffend ähnlich sind und hier versuchsweise in einigen Kernaussagen zusammengefasst sind: Die Betroffenen können die Bedeutung ihres leiblichen Daseins und Soseins nicht sicher einschätzen. Sie neigen abwechselnd zu Über- und Unterschätzungen ihrer leiblichen Präsenz, solange sie ihre Welt um ihr Leib-Sein herum nicht wahrnehmen und angemessen ein- und wertschätzen können. Solange immer das eine oder das andere als bedeutungs- oder wertlos empfunden wird, bleibt die Verbundenheit zwischen Ich und Welt so brüchig, dass sie es nicht wagen, darauf und daran zu bauen, sich und ihre Welt zu ernähren und zu gestalten - und sich mit allen Sinnen in dieser ihrer Welt zu bewegen. Leibliche Botschaften empfangen und senden alle Menschen, unabhängig davon, ob sie sich als krank oder gesund definieren (bzw. von anderen definiert werden).

Als Leib-Werden lässt sich im Grunde alles Tun verstehen (nicht nur therapeutisch indiziertes), das sich in aller Aufmerksamkeit und Konzentration den Botschaften zuwendet, die das Leib-Ich auszudrücken und aufzunehmen vermag. Menschen bauen dabei nicht nur an ihren eigenen Ich- Idealen. Als soziale Akteure bestätigen, vertiefen oder verwerfen sie auch erlernte gängige Ich-Konzepte. In allen praktizierten Ich-Konzepten tritt auch gesellschaftlich kollektives Denken zutage, das Menschen einerseits formt und das sie andererseits selbst erhaltend oder verwandelnd mitgestalten. Hier liegt die Chance, in der leibpräsenten situativen Beobachtung wirkungsvolle Strickmuster zu erkennen, um sich selbst als eine Welt in der Welt vielleicht nicht ganz neu, aber vielleicht aus einem anderen, leiblich festeren Stand hier-und-jetzt etwas anders oder verändert zu spüren, zu sehen, zu schmecken, zu riechen, zu hören, … ja, und auch zu denken. Ich folge hier der buddhistischen Idee, der Mensch habe sechs Sinne, von denen die ersten fünf mit den im Westen bekannten übereinstimmen, wobei der sechste im Westen meist noch über den anderen schwebt, zumindest dort, wo man sagt, der Körper sei nur dazu da, den Kopf (und mit ihm das kostbare denkende Bewusstsein) zu tragen. Symptome hierfür? Man neigt dazu, beleidigt oder ärgerlich zu reagieren, wenn jemand sagt: „Ja, ja, lass es nur denken, es denkt sowieso immerzu, so wie Deine Nase immerzu riecht, wenn es was zu riechen gibt. Dein Denken ist nicht Dein Verdienst, das ist bloß Dein sechster Sinn.“

Auch das ist ein Weg zu mehr Leibpräsenz, wenn das Denken nicht mehr (so stark) den Leib dominiert. „Auf dem Weg ‚vom Körper, den man hat zum Leib, der man ist‘ (G. Remmert) geht es um Erfahrungen mit sich selbst - und insbesondere um die Erfahrung, wie ich selbst leibhaftig ‚da bin‘, mich erlebe, mich verhalte, die Umwelt beeinflusse. Über diese Sensibilisierung für die eigene Befindlichkeit ist ein großes Stück der Sensibilisierung für die Situation zu erreichen. Es ist weiter zu erreichen, dass für die Einschätzung der Situation ein individueller, ‚fester Punkt‘, ein fester Halt im Chaos der Umwelt geschaffen wird, körperlich bezogen: der eigene Leib, psychologisch bezogen: die eigene materiell empfindbare Individuation… Wenn ich so weit bin, mir z. B. eingestehen zu können, dass ich im Konfliktfall Herzklopfen habe, dann kann ich mich nicht so leicht im Labyrinth der Prozesse verirren… Damit aber ist die Spannung Individuum - Situation erlebbar gemacht und ein situativ bezogener Lernprozess wird möglich sein …“(s. 4).


aus: "Situationsdynamik - Guck doch mal, wie Du guckst! Wer situativ beobachtet, weiß weniger und sieht mehr...", S. 47 ff., Saarbrücken, 2011    

Christiane Schmidt, Supervisorin (SD), Trainerin (SD)



1. www.die-hobbybrauer.piczo.com/trinksprüche, zitiert am 20.10.2011
2. H. Euschen, „Alltagsbezogene Agogik, Grundlagen einer situativen Didaktik“, Ludwigshafen, 1983, S. 86
3. Beate Brand, „Der Weg wächst unter Deinen Füßen, Übungsbücher zur Scharing-Eutonie“, Aus dem Vorwort von Hannelore Scharing, Mainz, 1992, S. 7
4. H. Euschen, „Alltagsbezogene Agogik, Grundlagen einer situativen Didaktik“, Ludwigshafen, 1983, Seite 90 f.