Mensch!

Es spielt in meiner Erinnerung keine Rolle,
wie er hieß, der Mensch mit diesen Augen.
Die gehören für mich noch immer in dieses ausgezehrte Gesicht hinein
und wandern noch immer von dort zu mir her.

Da kann ich nicht an der Tür bleiben,
um aus sicherer Entfernung zu betrachten,
wie hier ein Mensch, dessen Körper
Schicht für Schicht in sich selbst hinein verfault,
der hier bei vollem Bewusstsein zusieht,
wie sie sein totes Fleisch von ihm abschneiden,
seiner selbst gewahr wird.

Seine Augen sagen mir: komm her!

Sie ziehen messerscharf den Strich
zwischen sich und diese Schichten
zwischen sein Leben und seinen Tod.

Darauf balanciere ich
in ungeahnter Sicherheit,
hin zu diesen Augen
und hinein
und ins Leben.

Ich verdeckte seinem Blick
mit meinem Körper
das Operationsfeld
des eifrig arbeitenden Chirurgen.

Das wird mir erst später klar,
und auch,
dass ich allen anderen Wegen im Weg stand.

Es gab nur den Weg
von Augen zu Augen.



aus: Aufzeichnungen einer Krankenschwester 1986
(in Überwindung beruflicher Sinnkrisen durch Erfahrungen im chirurgischen Stations-Alltag)  

Christiane Schmidt, Supervisorin (SD), Trainerin (SD)