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Fortsetzung des ersten Mannheimer SD-Interviews
mit Herbert Euschen
Intentionalität als Prozesslogik in der Situation
Herbert Euschen: Das ist ein Diskursthema und nicht ein Setzungsthema. Und zwar ein Diskursthema,
was wiederum auch nicht nur aus der sozialen Ebene entsteht. Sondern der Sinn und Verstand einer Situation
entsteht eben aus einem komplexen System, was ich eben, weil es so komplex ist, als ein eigenständiges System
zusammenfassen möchte, ja? Also z.B. kann man nicht sagen: Man kann doch die Intentionalität in die Beziehungsebene
aufnehmen. Das stimmt einfach nicht, weil z.B. die Entscheidung eines einzelnen Menschen dann nicht berührt würde.
Dann wäre es ja so eine Art Totalitarismus, ne? So ein Demokratie-Totalitarismus.
Hauptsache, sagen wir mal, wir sind uns einig. Da könnte ja die Gruppe beschließen, wir bringen uns jetzt
alle gegenseitig um …
Christiane Schmidt: Hauptsache, das Kollektiv ist zufrieden. Auch wenn’s hinterher nicht mehr existiert.
Ist ja alles schon vorgekommen, z.B. mit dem kollektiven Suizid in dieser Jones-Sekte in den USA…
Herbert:: Weil es da eben diese Unschärfen oder Unstimmigkeiten gibt, hab ich mich entschieden
(Ich gebe zu, das war eine Mischung aus einer pragmatischen und einer voluntaristischen Entscheidung, aber auf jeden Fall
eine Entscheidung): Okay, ich mach jetzt mal die Forschungsfrage auf: Lohnt es sich oder gibt es das überhaupt,
daß man dort ein viertes Feld (das Feld der Intentionalität) konstruiert?
Ich mache die Erfahrung, daß das zwar ungewohnt ist, wenn man das mit den Leuten bearbeitet, aber es gibt zunehmend
Beispiele, wo die Intentionalität geradezu im Mittelpunkt steht, z.B. im Krankenhaus ein Leitbild zu entwickeln.
Das ist ja nun mal kein Sachthema in dem Sinn, daß man die Frage stellt: welches Papier benutzen wir denn? Es ist
aber auch nicht nur ein gruppendynamisches Thema. Es ist auch nicht nur eine Entscheidung des Geschäftsführers.
Christiane: In der Praxis hat sich Intentionalität dann als eigener logischer Prozess in der Situation erwiesen?
Herbert:: Mhm, Intentionalität als logischer Strang und auch als Diskurssystem.
Wobei ich der Meinung bin, daß da eine eigene Logik bis hin zu einer eigenen Kompetenz vorliegt. Also ich glaub schon,
genauso wie es eine Sachkompetenz von Menschen oder von Gruppen gibt, gibt’s eben auch eine intentionale Kompetenz,
z..B. strategische Kompetenz, gerade bei Führungskräften und auch bei Pädagogen. Das sind ja gerade zwei Berufsrichtungen,
die müßten ja eigentlich sagen:
Ja klar gibt es eine Intentionalität. Denn Führung führt ja eigentlich immer irgendwo hin und Pädagogik auch, ja? Und
wo es hinführt, ist ja nicht in der Sache begründet, sondern das ist eine eigene Logik: Wo wollen wir hin? Wo tendiert
die Welt hin? Was sagen uns die Normen?
Der Intentionalitätsbegriff ist ja schon viel früher entstanden. Der stammt eigentlich von Brentano. Das ist ein
Philosoph aus dem 19. Jahrhundert. Und einer seiner Schüler war Husserl, der den Intentionalitätsbegriff grundsätzlich
mal entwickelt hat. Bloß ist Intentionalität bei ihm eben eine Eigenschaft des Bewußtseins. Husserl sagt,
das Bewußtsein ist immer intentional auf ein Objekt hin gespannt. Das nennt er die Protention. Das Bewußtsein,
wenn wir etwas tun oder etwas erkennen, das läuft protentional z.B. auf dieses Holz, was ist das? Ist das ein Tablett?
Christiane: mhm…
Herbert:: Das Bewußtsein läuft protentional darauf, damit es das überhaupt erkennen kann. Und dann gibt es
bei Husserl die so genannte Retention: das Tablett spannt sich wieder zurück zum Bewußtsein. Und durch diesen Austausch
entsteht das, was Husserl das phänomenale Erkennen nennt. Dieses Phänomen des Tabletts kann sozusagen in mein
Bewußtsein treten.
Aber das setzt voraus, daß mein Bewußtsein darauf gerichtet ist, es intendiert sozusagen die Erkenntnis. Das jetzt nur
mal dazu, wie das Wort entstanden ist.
Mein Intentionsbegriff ist ein bißchen anders, nämlich, daß ich jetzt nicht das Tablett als Objekt nehme, sondern die
Intentionalität qua Intentionalität. Das heißt also, wenn man so will, Intentionalität als einen Entwurf oder eine
Utopie zu betrachten. Da steckt vielleicht auch ein bißchen Bloch dahinter. Also, wie der Bloch manchmal so ein bißchen
emphatisch sagt: Etwas, das es noch nie gegeben hat… Wenn ich mit Husserl Intentionalität beschreibe, dann komme ich
sozusagen nie über’s Tablett raus.
Christiane: und nie über diese Wand hinter dem Tablett und diese Strasse hinter der Wand…?
Herbert: Genau, das, was man auch Poesis nennt. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, kein Novum.
Bloch nennt das Novum.
Etwas Neues kann es ja auch sonst schon mal gegeben haben, aber es gibt ein ganz bestimmtes Neues, nämlich das Novum,
das ist die Art von Neuem, die es eben noch nicht gegeben hat, nämlich etwas Unerhörtes, sagt er dann manchmal.
Wie es interessanterweise in der Beerdigungsliturgie heißt: etwas, was noch keines Menschen Auge gesehen und was
noch keines Menschen Ohr gehört hat. In dem Sinn, das ist jetzt vorsichtshalber mal in die Beerdigungsliturgie…
Christiane: … vorsichtshalber mal ins Jenseits verbannt…?
Herbert: … lacht, genau! Stell Dir mal vor, es gäb hier was unerhört Neues! Oho!
Christiane: … dann würden wir vermutlich nicht mehr so ruhig dasitzen. Dem Menschen scheint doch nichts
wichtiger zu sein, als ruhig dasitzen zu können und sich alle Unbilden vom Leibe zu halten.
Herbert: Das, was man kennt, kennt man – und was man nicht kennt, muß man ja auch nicht kennen, so in dem
Sinne etwa…
Christiane: Dann baut man seine Mauern um sich herum, um unbekannte Möglichkeiten auszusperren. Und ich
erinnere mich, soweit ich SD bisher in meinen Ausbildungen und auch später erlebt hab, war es oft eine Auseinandersetzung
darum, das potentiell Unerhörte oder auch bloß das Nicht-Vertraute oder Nicht-Bekannte so gut wie möglich auszusperren.
Wenn jemand intentional weiterschauen wollte: was treiben wir denn da - und wozu ist das gut? Dann war das nicht so
gern gesehen. So einfach ist das nicht…, oder? Intentional zu fragen? Wie erklärst Du Dir solche Phänomene?
Solchen anscheinend intendierten Rückzug aus der Intentionalität?
Chancen und Gefahren des Theoretisierens…
Herbert: Es gibt da einen Zusammenhang in der Situationsdynamik, mit Einfachheit umzugehen. Insofern stimme
ich schon auch mit dem Luhmann überein, daß auch die Situation in ihrem Systemcharakter im Grunde nicht erforscht werden
kann. Der Systemtheoretiker, den ich für die SD für einschlägig halte, ist übrigens Ludwig von Bertalanffy. Der ist,
sagt man heute, der Entwickler der allgemeinen Systemtheorie. Das heißt also, es gibt ja z.B. Systeme biologischer Art:
z.B. Milieutheorie. Es gibt Luhmann: die Theorien des sozialen Systems. Und das ist ja was anderes, gell? Es gibt
individuelle Systemtheorien. Man kann z.B. die Psychoanalyse systemisch aufbauen. Und dann in der Deontologie sowieso.
Da gibt’s ja die Systemphilosophie bis zum Hegel, ja? Hegel ist ja eine einzige Systemphilosophie. Gut. Und jetzt ist
die Frage… ach so, nach der technischen Frage z.B., die fehlte noch, die Kybernetik, ja? Wie z.B. ein Heizungssystem
funktioniert, ja?
So, und jetzt ist die Frage: Was hat jetzt die Kybernetik mit einem sozialen System, mit einem psychischen,
mit einem deontologischen System zu tun? Und da wäre eben Bertalanfy einschlägig, er war glaube ich vom Studium
her Biologe…
Christiane: So wie Maturana und Varela mit ihrer Erkenntnisbiologie?
Herbert: Ja, aber noch ’ne Generation davor, ein ganz alter Knopf. Ich war mal mit Richard Timel zusammen
in der Familie bei denen. Das ist interessant, der heißt zwar von Bertalanffy. Aber die Familie hat einen Landhandel,
so einen Landmaschinenbau, so was ganz Bodenständiges, und er war sozusagen der geniale Sproß dieser Familie.
Er hat die allgemeine Systemtheorie entwickelt, die die Möglichkeit hat, soziale, technische, individuelle, also
biologische und deontologische Systeme … zu gruppieren, sagen wir mal; also die verschiedenen Poiesis-Strukturen zu
einer Einheit zu bringen, zu einer relativen Einheit. Es soll ja auch keine Sauceneinheit sein, sondern eine relative
Einheit, Einheit in Vielfalt sozusagen.
Ja, und insofern zum Thema Einfachheit: Auf der einen Seite eben diese Einfachheit in dem Sinn: die Komplexität wird
so reduziert, daß es berechenbar ist. Aber auf der andern Seite ist nach meiner Meinung heute die Komplexität zu sehr
reduziert. Also wir haben heute eine Banalisierung der Wirklichkeit, bis hin zum mathematischen Kalkül im Alltagssinn.
Die richtigen Mathematiker haben ja … - ich will gar nicht über richtige Mathematik reden, sondern über das, was wir
unter Mathematik in unserem Gretchenkopf herumschleppen: 1 plus 1 gleich 2, ja? Ein richtiger Mathematiker wird sagen,
ja, möglicherweise. Wer weiß, auf welche Systeme wir uns beziehen.
So, und diese Banalisierung der Wirklichkeit, da sehe ich eben, daß die Situationsdynamik die ein Stückchen
zurücknehmen kann, also mehr Komplexität erzeugen kann und sie dann aber auch wieder anders reduzieren kann, ja?
Und da wären wir eben bei Derida mit seinem Begriff der Dekonstruktion.
Das heißt, die SD hat die Fähigkeit, die banalisierte Wirklichkeit zu dekonstruieren, indem sie eine automatisierte
Komplexitätsreduktion wieder hochfährt – so ähnlich wie wenn man Federn, die ein bestimmtes Muster auf dem Boden machen,
mit dem Staubsauger mal so richtig hochsausen läßt– und dann kommen sie wieder runter und verteilen sich von mir aus
auch hier auf dem Sessel und haben ’ne völlig andere Oberflächenstruktur und Verteilung, möglicherweise auch
dreidimensional, selbst wenn man sich dann vielleicht ärgert, weil man sie nicht mehr abkriegt, nur mal als Beispiel, ja?
Insofern, das selbe Material, die Welt, die Wirklichkeit vor der Strukturfestlegung läßt sich anders arrangieren,
läßt eine andere Poesis entstehen, oder mit Hilfe von poietischen Prozessen eben eine andere Struktur, ja?
Da sehe ich den Vorteil, wenn man so an die Gegebenheiten der Welt drangeht…
Christiane: mhm… Na ja, andererseits läßt sich die Wirklichkeit, was auch immer das sein mag, ja auch nicht so
einfach reduzieren, oder?
Herbert: genau.
Christiane: … aber das heißt, durch die Banalisierung meiner Wahrnehmung nehme ich nicht mehr potentielle
Wirklichkeit wahr, nicht mal mehr einen Ausschnitt, sondern im Grunde dieses Ding, was Du eben auch Alltag genannt hast,
das Graue…, ja?
Herbert: … ja, bloß, wenn wir jetzt so theoretisch in dieser Art des Theoriegesprächs darüber reden,
dann hört sich das wie ein deontologisches System an. Also man kann eigentlich reden, was man will, oder? Wenn
wir jetzt hier wollten, könnten wir irgendwas vor uns hin dichten, was keinerlei Sinn und Verstand hätte, aber
wo man sagen kann: oh, toll, ja? War gute Stimmung und wir haben uns gut verstanden und war ein schöner Abend,
bloß, wenn jemand mal das Band abhört, sagt der dann, na ja, das hört sich irgendwie gut an, aber…
Christiane: aber? … so what?
Herbert: Das war’s dann aber auch schon, oder? Es ist so flexibel. Die unerträgliche Leichtigkeit des
Gedankens… Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins wird zur unerträglichen Leichtigkeit des Gedankens. Und das hat
ja heute auch so ein bissel was Postmodernes, ja? Anything goes. Toyota: Nichts ist unmöglich. Und: Na, reden wir
einfach mal drauflos, unverbindlich, so, ja?
Und das Problem, was ich daran sehe… oder sagen wir mal umgekehrt, den Realitätstest, den sehe ich im Rahmen der SD
darin, daß man sagen kann: ja, zeig doch mal, wie das funktioniert, also den pragmatischen Teil daran! Und da bin ich
eben insofern wieder froh, daß das Einzelereignisse sind, wo man dann mit Hilfe der Handlungstheorie, also jetzt
jenseits der Systemtheorie sich selber auch festlegen kann und sagen kann: Zack, und jetzt mache ich mal den Praxistest.
Jetzt probieren wir das mal aus. Und das ist für mich auch unter dem Aspekt Banalisierung und Neugruppierung der
Realität, schon fast wie – ich will jetzt nicht gerade sagen wie was Erlösendes – aber doch etwas, wo man sagen kann: So!
Dann zeige ich Euch mal, wie das geht! In dem Sinn.
Man kann dann auch so eine Art Fortschritt oder Lernprozess oder eine bessere Organisation im Verhältnis zu einer
schlechteren Organisation machen… Und ich bin nicht darauf angewiesen, so in die absoluten Verstiegenheiten von
irgendwelchen Sprachdrechseleien reinzugehen, die ich auch manchmal nicht für nötig halte. Also z.B. manche Überlegungen
vom Lacan z.B., die halte ich einfach für Blödsinn! Der hätte genauso gut die Atemluft fürs Luftballonaufblasen benutzen
können, anstatt für manche Seminarpassagen. Das ist einfach abgedreht. Das sind noch nicht mal ordentliche Koans,
wo man wirklich was draus lernen kann. Sondern das ist einfach Gebrabbel.
Christiane: Lacan? Franzose? Philosoph? Sagst Du was dazu?
Herbert: Genau, die Franzosen… Also eigentlicher würde er sich als Psychoanalytiker bezeichnen.
Aber die Franzosen subsumieren die Psychoanalyse unter Philosophie. Also, solange sie nicht ärztliche Tätigkeit im
Sinne der Therapie ist, ist alles andere, die analytischen Diskurse usw. für einen ordentlichen Franzosen Philosophie.
Der Philosophiebegriff in Frankreich ist ein ganz anderer als bei uns. Da ist auch Sozialkunde usw. alles Philosophie.
Hat auch was Gutes. Bei uns ist ja die Philosophie von den ausdifferenzierten Wissenschaften weggetrennt.
Was heute unter Philosophie betrieben wird, oh nee! Das ist auch so ein Beispiel für völlig abgedrehten Quatsch!
Also, da wäre man dann unter diesem Gesichtspunkt manchmal froh, wenn es hieße: komm, wir schaffen mal den gesamten
öffentlichen Dienst ab. Da würde man sehen, was passiert. Blitzschnell wären sie alle bei was anderem, anstatt daß
sie da auf ihre Epistemologie oder ihren Szientismus schwören.
Wie kommt man zur situationsdynamischen Praxis?Christiane: Ja? Okay, also dann mal konkret: Wozu ist die Idee Situationsdynamik gut? Wie kann man sie anwenden,
realisieren?
Herbert: Also als Dekonstruktion mal auf jeden Fall. Als Pragmatik, also die Pragmatik der Dekonstruktion.
Das wäre eben die Frage: Brauchen wir so was? Ist das heute sinnvoll? Nötig? Und von daher würde ich sagen: Das hängt
jetzt auch von der ökonomischen, ökologischen, sozialen, politischen Gesamtlage der Kultur ab, ob man so was braucht.
Es gibt bestimmt verschiedene Bereiche, wo man es nicht braucht. Also würde ich z.B. sagen, man muß jetzt nicht unbedingt
situationsdynamisch die Regeln des Fußballspiels verändern, bloß um die Regeln des Fußballspiels zu verändern. Da wäre es
viel schöner, wenn die traditionell gleichbleiben, daß man ungefähr vergleichen kann, wie war die Weltmeisterschaft 1954
und wie wird die Weltmeisterschaft 2010. Wenn man das dauernd verändert, was soll das?
Allerdings gibt es umgekehrt bestimmte Bereiche, wo man wirklich händeringend froh sein müßte, wenn neue
Dekonstruktionen auf den Markt der Möglichkeiten kämen.
Christiane: Ja, wenn man den Auftrag kriegte... Die Option, das zu tun, ist ja auch nicht irgendetwas, was
freischwebend irgendwo am Himmel hängt..., sondern SD ist ja wesentlich erst eine Anwendungsoption – und die stellt sich
erst dann zur Verfügung, wenn Dich jemand fragt: kannst Du das und das mit mir machen, ja? Sonst bleibt es nur bei der
Idee.
Herbert: Hm, wenn ich dran denke, wie wir ganz am Anfang des Gesprächs das Beispiel Irak hatten…, ich denke,
jeder Iraker, der nicht absolut einen an der Kletsche hat oder selber mafiös ist, der wird sagen: Ja, ich wär froh,
wenn es andere Konfliktregelungsmechanismen gäb – oder wenn z.B. das Deutungsmuster der US-Amerikaner dekonstruiert
werden könnte. Wir bringen Euch die Freiheit! Natürlich will ich als Iraker frei sein. Aber ich will nicht das, was
die Amerikaner…
Christiane: ... nicht nach amerikanischem Deutungsmuster… mit Streubomben garniert … schöne Freiheit!
Herbert: Genau… und daß dann eventuell noch Vorwahlen in Bagdad stattfinden - Obama gegen Clinton - und die
Computer dann nicht funktionieren und der Bush nochmal Präsident wird, obwohl er nie eine Mehrheit gekriegt hat,
solche Sachen… Da würde ein vernünftiger Mensch sagen: Bitte schön, vielen Danke schön, das will ich net…, ja? So,
und dann muß man irgendwas dekonstruieren, damit eine neue Vernunft entsteht.
Und jetzt haben wir wieder den situationsdynamischen Dreh dran: Entweder, daß man sagt: Das machen jetzt
irgendwelche Forschungsinstitute und bringen dann ein Dekret, ein Buch, ein Weiß-der-Geier-Was heraus, eine
Medienproduktion und dann tun die anderen das wieder übernehmen. Das wäre der lange Marsch durch die Institutionen.
Christiane: … aber nicht Situationsdynamik…
Herbert: Nee, die wird erst im Sinne einer situativen Alltagspraxis, obwohl, der Ausdruck gefällt mir nicht,
ich will ja gar keine Alltagspraxis in dem Sinn, sondern durch die Situationsdynamik des täglichen Lebens würde das
erzeugt…
Christiane: Ich frag mich halt immer noch, woher kommt denn überhaupt das Ding mit der Dynamik? Also die
Situation, wie der Begriff entstanden ist, auch aus Deiner Entwicklung, aus der Dynamik Deiner Lernprozesse heraus,
okay. Aber es gibt ja so und so viele Situationen… oder Systeme oder auch Länder mit ihren Systemen, die sind wie sie sind,
die reproduzieren sich, die banalisieren sich, die reduzieren ihre Komplexität so weit als nötig oder mehr als nötig…
und dann ist erst mal fertig. Das ist dann so ein geronnener Pudding, in dem alles um sich selber kreist und weiter kreist,
auch nach den Interventionen durch die US-Armee, wie im Irak. Wie kann dort überhaupt Situationsdynamik entstehen?
Herbert: Man kann auf verschiedenen Ebenen antworten. Wenn man auf der theoretischen oder konzeptionellen
Ebene antwortet, kann man unterscheiden: der Begriff Dynamik oder Dynamis unterscheidet sich von dem Begriff der
Energeia. Die Energie ist sozusagen die latente Form der Dynamik. Dynamik ist die realisierte Bewegung oder Kraft.
Und dahinter stecken verschiedene Energien. Da kann man also schon mal sagen: Okay, also die Dynamik kann ich
phänomenologisch feststellen. Es bewegt sich immer alles.
Und sei es auch nur der Begriff der Zeit. Also letztendlich deponiere ich den Begriff der Dynamik im Begriff der
Zeit. Darüber komm ich dann wieder auf die Zeit-Raum-Verschleifung, also auf Einstein und die Relativitätstheorie.
Der hat ja genug Energie und Dynamik da drin. Wenn man jetzt auf Einstein eingeht, geht der Gedankengang so:
Veränderung ist eine Dimension der Zeit. Veränderung ist gleichzeitig aber auch etwas dynamisches, sprich:
eine Erscheinungsform der Energie. So, erste Aussage.
Das Ganze passiert auch in der Dimension des Raumes, weil sonst könnte man es ja nicht verorten. Also nehmen wir z.B.
mal an, Dein Band bewegt sich jetzt ….und das ist ein Zeitphänomen, man sieht 21, 22, 23 … diese Bewegung am Zählwerk
und es ist gleichzeitig eine Raumbewegung, indem man sagt: Zentimeter 0, 1, 2 … ja? Das ist beides gleichzeitig.
Es steckt auch Energie drin, weil, sonst würd es sich ja nicht bewegen.
Insofern ist es dann ein höchst interessantes Phänomen, was man dem Albert Einstein jetzt übergeben könnte und
sagen: Guck mal, Deine Relativitätstheorie, das ist ja nicht nur eine Atomtheorie, sondern das ist ja tägliche
Lebenspraxis. Also, was wir bisher immer so vor Einstein angenommen haben, ganz klar, wir haben zwei Grundkategorien
unseres Bewußtseins, die sind unveränderlich: nämlich die Raumkategorie und die Zeitkategorie. Ende der Durchsage.
Und heute ist das gar nicht mehr so sicher, ja? Und zwar durch das Argument der Bewegung, der Veränderung der
Phänomene durch Bewegung, wie z.B. der Dopplereffekt: wenn ein Auto auf mich zukommt und hupt, dann hat das eine andere
Tonhöhe, als wenn die selbe Hupe einfach gedrückt wird und das Auto fährt an mir vorbei. Ja? Kennst Du den Effekt?
Christiane: mhm, intoniert den auf- und abschwellenden Ton des vorbeifahrenden hupenden Autos …
Herbert: Genau, und das liegt einfach daran, weil die Tonquelle auf mich zukommt, dabei werden die Schallwellen
gestaucht, daraufhin ist der Ton höher, dann geht der selbe Ton von mir weg, die Schallwellen werden gestreckt und
daraufhin ist der Ton niedriger. Wenn man in dem Auto mitfährt, ist es tatsächlich immer derselbe Ton, ja? So, und
solche Phänomene tauchen wohl offensichtlich auch situativ auf. Einstein hat sie halt in der Physik erkannt und errechnet,
wenn man so will und erdacht. Und ich meine, daß man diese Raum-Zeit-Unschärfe, diese Überführung von Raum in Zeit,
das Argument Geschwindigkeit usw., daß man das heute einfach ins tägliche Leben überführen muß.
Es gibt ja viele Physiker, die zwar auch in unserem so genannten „Alltag“ mitleben, die sich aber eigentlich still ins
Fäustchen lachen, wie wir uns die Welt vorstellen. Also, wenn wir z.B. sagen: Das ist eine massive Tischplatte, sagen die
Physiker: Das ist alles mögliche, nur keine massive Tischplatte, ja? Es erscheint uns nur so. Wir sind gewohnt, es so zu
handhaben und es funktioniert so weit, ist ja so weit auch gut, ja? Genauso wenn man sagt: die Welt ist eine Kugel.
Heute sind wir ja ganz stolz darauf, weil wir uns immer diese Geschichte erzählen: Früher haben die gedacht,
es wär’ ne Scheibe. Lacht.
Christiane: und wir leben wohl immer noch so, als wär es eine Scheibe. Kommt mir manchmal so vor:
Was uns nicht behagt, werfen wir einfach hinten runter, oder?
Herbert: Das, ja! Die zweite Sache ist, wir sind dann daraufhin stolz, daß wir sagen: die Erde ist eine Kugel.
Bloß jeder Geometer und jeder Geograph sagt: Die Erde ist keine Kugel! Sie ist noch nicht mal von der Form her eine
Kugel. Da muß man schon ganz ganz viele Abstraktionsschritte machen, damit man sagen kann: die Erde ist eine Kugel.
Aber sie ist jedenfalls nicht das, was in der Mathematik Kugel genannt wird, sondern sie ist nur in etwa so ungefähr
so etwas wie eine Kugel. Sie verhält sich noch nicht mal wie eine Kugel, noch nicht mal wie ein Körper, den man Kugel
nennt, ja?
Schon die Erdrotation…, allein wenn man nur die Atmosphäre um die Erdkugel mitberechnet, muß man sagen: Was
ist denn das für eine komische Kugel? Da saust die Oberfläche anders als der eigentliche Körper. Also, man muß schon
ziemlich abstrahieren, wenn man sagt, die Erde ist eine Kugel. Aber das ist in unserem Alltagsbewußtsein derartig
verankert.
Und wenn ich das jetzt in der Schule erzählen würde und der entsprechende Physiklehrer würde daneben stehen oder
der Erdkundelehrer, der würde sofort sagen: Soo! Herr Euschen, das wars jetzt, das können Sie an der Fachhochschule
als Professor erzählen, aber wir machen jetzt mal… Also, liebe Kinder, die Erde ist eine Kugel… so ungefähr verläuft
das ja… und warum? Das hat auch seine Vernunft. Nämlich, sonst würde der „Alltag“ ja nicht funktionieren. Die Kinder
würden verrückt werden und sagen: ja, was ist es denn jetzt?
Eigentlich müßte man zu den Kindern sagen: Ja, vergiß es mit der Kugel. Guck, wie Du Dein Pausenbrot ißt.
Gut, aber auch das ist unbefriedigend, weil es kann dann zu irgendwelchen Phänomenen kommen, z..B. wenn die dann
die Aufgabe kriegen, okay, wir machen mal ne Weltreise und fahren einmal um die Erde rum und dann kommen wir wieder
da raus. Also ist die Erde doch ’ne Kugel.
Christiane: Okay, also was soll dann ein solcher Exkurs über Scheibe und Kugel?
Herbert: Man sieht, wenn man sich da reinbegibt in diese Sachen, wie ich eben gesagt habe: Manche dieser Fragen
sind so überflüssig wie ein Kropf, ja? Da könnte man sagen: Geh fort, wir haben was Besseres zu tun, als diesen Quatsch
zu diskutieren. Die Frage ist nur: Wer entscheidet das? Kann es nicht sein, daß eine unterlassene Diskussion in diesem
Sinne möglicherweise das Welträtsel überspringt. Daß man sagt: Ja, hätten wir das damals mal ordentlich durchdiskuktiert,
wäre das jetzt nicht so. Hätten wir das mal ordentlich durchdiskutiert, bevor wir die Atomkraftwerke gebaut haben,
hätten wir vielleicht andere Grundentscheidungen getroffen und die Milliarden von Energieforschung in was anderes
investiert, dann hätten wir möglicherweise jetzt was anderes – und vielleicht was Besseres…
Gut, jetzt ist es müßig, meine ich, dem nachzutrauern oder jemanden zu beschuldigen und zu sagen: Siehste! Der Franz
Josef Strauss, der hat damals seine sagenhaften 300 Millionen Mark damit verdient, die er am Schluss hatte, weil er
solche Sachen gemacht hat… Ah, da muß man sagen: Peanuts! Ist doch völlig egal, ob da irgend so ein dicker Bayer
reich oder arm ist. Was juckt’s. Das löst ja das Problem nicht, ja?
Was ist situative Kompetenz?
Herbert: Gut, und wiederum jetzt, um das jetzt nicht in tausend Beispielen spazierenzuführen… Ich bin der
Meinung, daß die Werkstätte, wo das läuft, die jeweils ablaufende Situation ist – und zwar in ihrer ganzen Chaotik und
in ihrer Vielfalt usw.
Und je kompetenter die Menschen sind, sich dem zu stellen, also was ich situative Kompetenz nenne, um so besser ist es.
Und je mehr die Menschen sich nur auf so lineare technische Vollzüge und Wie-kann-ich-meine-Steuerklärung-Schneller-
Ausfüllen und solche Kleinpragmatismen konzentrieren, um so weniger Chancen haben wir…, ja?
Christiane: ja, klar, wenn ich nur auf Steuertricks schaue und auf die 200 Euro, die ich vielleicht noch
irgendwie dem Staat abknapsen kann, ja, dann wird meine Welt immer kleiner… Im Nachhinein kann man sowieso nicht mehr
diskutieren, was wäre sinnvoll gewesen, ja? Oder was hätte man tun sollen, um…? Welche Diskussion hat man vielleicht
verpaßt? Es läuft ja alles immer weiter – und verändert sich trotz allem Beharren… Aber in welchem Moment könnte man
denn sagen: Okay, jetzt tritt die situative Kompetenz in Kraft? Jetzt ist der Moment, da ich anders als sonst
vielleicht mich situativ kompetent verhalte?
Herbert: In Krisen! Und in Katastrophen. In dem Moment, wo alles, was in Konkurrenz zur Situationsdynamik
steht, nicht funktioniert. Sagen wir mal so: Da sehe ich wirklich die oberste Oberstufe der Situationsdynamik. Die ist
im Katastrophenfall gegeben. Das heißt: Wenn wir z.B. in der Peloponnes wären, wenn wir unmittelbar in diesem 6,5 Erdbeben
drinstecken und möglicherweise in einer Situation, wo die professionellen Katastropheninstitutionen ausfallen, das wär
natürlich die allerhöchste Form. Da bleibt ja nichts anderes übrig, als mit situativer Kompetenz zu arbeiten.
Und ganz im Anfang hatten wir ja auch das Thema mit dem Unfall. Vielleicht ist das insofern auch ein interessantes
Beispiel. Aber jedenfalls: Katastrophe. Das muß ja noch nicht mal eine negative Katastrophe sein, es kann ja auch
eine positive Katastrophe sein, was die Engländer „to fall in love“ nennen. Das ist ja das Bild: man fällt in
irgendetwas rein und blickt überhaupt nicht mehr durch. In diesem Sinne. Oder daß zumindest keine gelernten und
trainierten kulturellen Deutungsmuster oder Verhaltensmuster oder Überlebensmuster mehr gegeben sind. Da sehe ich auf
jeden Fall den Kern, wo man sagt: Da bleibt einem ja gar nichts anderes übrig, oder?
Christiane: mhm, ja, gut…
Herbert: Ich behaupte, daß die situative Kompetenz für die Fälle, wo es sonst nix mehr gibt, daß das die
ist, die dann weiter funktioniert. Wenn der Strom ausfällt, kann ich mich nicht mehr auf ein technisches Gerät verlassen.
Wenn ich allein irgendwo im Urwald lande, kann ich mich nicht auf die Verwaltungsstrukturen verlassen, weil da ist halt
nix ist, kein Polizeiamt usw. usf. Und wenn ich eins auf den Detz gekriegt oder die Beine gebrochen habe, dann kann ich
mich auch nicht mehr allein auf die körperliche Identität verlassen und auf die deontologische schon gar nicht, ja?
Die deontologische Identität kracht als erste zusammen. Die Erfahrung vom Eugen Kogon, das SS-System, wie er das
beschrieben hat, wie das KZ wirklich funktioniert hat, diese Überlebensstrategien, die die Menschen dort entwickelt
haben. Das hat ja mit der bürgerlichen Ethik so viel zu tun wie die Kuh mit dem Hochamt, nämlich gar nix. Und auch
wenn wir manchmal glauben - Ende der 50er-Jahre gab es mal so ’ne Welle, wo sie uns weismachen wollten, die hätten
damals untereinander sich geholfen und wären solidarisch gewesen - nichts davon war wirklich, aber man kann auch
nicht sagen, sie haben einander geschadet. Sondern es war einfach eine andere Überlebenslogik – und zwar eine, die
funktioniert hat. Das kann man jetzt nicht von außen bewerten. Aber das ist etwas, was am schnellsten weggeht, die
deontologische Identität. Da gibt’s doch so einen Spruch: Erst kommt das Fressen – und dann die Moral. Das würde da
passen. Die Moral ist flexibel. Hauptsache, man überlebt erstmal.
Christiane: ich weiß auch nicht mehr, wer’s gesagt hat: kein Volk ist weniger weiter von einer Revolution
entfernt als um den Ausfall von drei Mahlzeiten. Dann ist schon Schluß mit Kultur und Zivilisation…
Herbert: Ja, insofern würde ich sagen: Die SD steht wirklich in unmittelbarer Konkurrenz zu den
Makroregelungssystemen wie z.B. die Verwaltung. Ich glaube, der Kerngegner der Situationsdynamik ist die staatliche
Verwaltung. Und zwar wenn man jetzt vom Hegel ausgeht: Die Rechtsphilosophie geht davon aus, daß jeder Fall so zu
regeln ist wie jeder andere gleich strukturierte Fall, woraus unser ganzer Sozialstaat entsteht. Wenn einer Hartz IV
mit 273,-- Euro kriegt, dann haben gefälligst alle 273,-- Euro zu kriegen, ja?
Und Situationsdynamik? Das ist natürlich jetzt ein bißchen gewagt, aber wenn man sagt: Das wendet man darauf an,
würde man sagen: jeder kriegt – so wie Marx das für das kommunistische Prinzip gesagt hat – nach seinen Bedürfnissen
und nach seinen Fähigkeiten. Jeder kriegt soviel wie er braucht. Und jeder macht so viel wie er kann oder will, von
mir aus, wie auch immer. Jetzt will ich nicht über die Realitätsschärfe davon reden, aber das wäre eher ein
situationsdynamisches Prinzip als diese Gleichsubsumierung im Sozialrecht und im bürgerlichen Recht.
Der Einzelfall, das einzelne Ereignis, das ist das Hauptargument der Situationsdynamik und nicht das Wegabstrahieren
des einzelnen Ereignisses. Und das hat insofern wissenschaftstheoretische Konsequenzen: Man muss mehr auf die Induktion
achten als auf die Deduktion, man achtet mehr auf die Synchronizität als auf die Kausalität und die Finalität,
mehr auf die Pluralität der Wissenschaften als auf die Uniformität usw., ja? Das wären dann die Auswirkungen.
Die Situation - ein flüchtiges Phänomen…
Christiane: …mhm. Und wie geht dann der Übergang in die konkrete Anwendung?
Herbert: Das ist die Frage…
Christiane: Ich meine, man könnte es so sehen, daß Situationsdynamik etwas ist, was sowieso passiert oder als
würden die Menschen es dann – Fingerschnipsen – aktualisieren, wenn es dran ist in Katastrophen oder Kriegen, wenn nichts
anderes mehr geht, wenn es keine anderen Optionen mehr gibt… Aber wir als sogenannte Situationsdynamiker gehen ja darüber
hinaus und sagen: wir arbeiten damit. Bedeutet das dann, daß wir unsere KlientInnen jedesmal in die Krise schleudern,
um deren situationsdynamische Kompetenzen freizusetzen?
Herbert: Das war eben diese Unterscheidung. Spreche ich von SD als Trainingsform, als agogische Form oder als
Phänomen, also als dynamische Situation, wenn man mal so sagen kann? Als erstes müßte man überhaupt mal dann erforschen:
Taucht denn eine dynamische Situation in Kulturen überhaupt auf? Gibt es das denn tatsächlich, ohne daß Trainer das als
Übungsraum angesagt haben oder sogar als Ware verkaufen, sondern einfach die Frage: Gibt es das Kulturphänomen der
dynamischen Situation?
Christiane: mhm, ja, okay, das hab ich auch schon gefragt…
Herbert: Und da denke ich als erstes: Das gibt’s schon. Das kann man nachweisen. Es ist nur relativ schwer,
es zu erforschen. Weil in dem Moment, wo ich weiß, ah, z.B. jetzt ist das Fußballspiel gewesen und jetzt gehe ich zu den
Leuten, die das geguckt haben und frag die: Da kriege ich alles raus, bloß nicht die Situation, wie sie war.
Die Situation ist insofern ein Forschungsgegenstand, der einen flüchtigen Charakter hat. Ich hab ja mal mit dem
Luhmann da drüber korrespondiert und hab ihn einfach angefragt. Damals gab’s ja noch keinen Computer. Also hab ich
einfach ein Briefchen geschrieben und gefragt: Lieber Herr Professor Luhmann, warum erforschen Sie denn nicht die
Situation und nur dauernde Systeme? Da hat er mir geantwortet, gleich am übernächsten Tag war ein Brief da, da hat
dringestanden: ja, eben, weil das keine dauernden Systeme sind. Und der Einzelfall? Er hat nicht gesagt, der Einzelfall
würde ihn nicht interessieren, weil es ihn nicht gibt, sondern er hat schon gesagt: natürlich gibt’s den Einzelfall,
das Ereignis, aber es würd’ ihn wissenschaftlich nicht interessieren, weil es keine Dauer hat und weil er’s nicht in
aller Gemütsruhe studieren und beschreiben kann…
Das ist das Problem bei der Situationsdynamik. Ich kann das Phänomen, um das es geht, nur indirekt beschreiben,
so ähnlich wie die Nebelkammer bei den Physikern. Ja? Was die da in diesen sogenannten Nebelkammern zum Vorschein bringen,
also subatomare kleinste Teilchen, die in gewisser Weise unberechenbar sind. Man weiß noch nicht mal, was das genau ist.
Man kann nur aus der Umwelt des Teilchens heraus zurückrechnen, was das sein muss. Aber es gab noch nie jemand, der
gesagt hat: hups, ich hab es! Ich kann es nicht als Identität erforschen, sondern ich kann die Situation nur in ihrer
Relativität erforschen, wie so ein Nebelkammerphänomen. Aber immerhin, die Hypothese wäre eben, wenn man das mal so ein
bißchen esoterisch sagen kann: Das gibt es aber! Ich kann es nur nicht identisch erforschen, sondern nur relational
erforschen, sozusagen wie der Einstein bestimmte Sterne vorhersagen konnte, indem er die Krümmung von Licht beobachtet
hat - und dann gesagt hat: genau da ist ein Stern! Und siehe da, als die Optik oder was auch immer Fortschritte gemacht
hatte, haben sie gesagt: Guck, da isser! (Lacht) … Der hat’s schon gewußt!
Christiane: Mhm, ja, gut, was wir dann beobachten können, sind Ereignisse… in Relation zu Veränderungsprozessen,
oder in Relation zu verändertem Verhalten oder… veränderter Erkenntnis…. Oder was?
Herbert: Man muß das wie eine Art von Kriminalgeschichte aufschreiben. Sagen wir mal, das Argument der
Spur oder der Relation, das wäre sozusagen ein anderer Ansatz als das Argument der Identität und des Messens, ja?
Ich kann möglicherweise das Phänomen Situation nie objektiv messen. Ich kann nie sagen: wie lang ist es? wie breit
ist es? wie lang dauert’s? Sondern ich kann es immer nur reflexiv oder zurückschließend - der Habermas sagt ja
„rekonstruktiv“ - feststellen. Und selbst das Wort „feststellen“ ist ein bißchen gewagt, weil die Rekonstruktion eben
keine Feststellung, sondern in gewisser Weise eine Art von …, ja, das ist etwas mehr als Vermutung…, es kann sein,
daß es bewiesen wird, aber es ist nie eine Feststellung in dem Sinn, das es heißt: So! Fakt! Ja? Axiom. Darauf kann
ich jetzt den Rest der Welt bauen. Sondern das ist immer nur in dieser Flüchtigkeit der Situation…
Was tun mit der Flüchtigkeit der Situation?
Christiane: Jetzt sind wir bei der Nichtfeststellbarkeit und der Nicht-Beschreibbarkeit der Situation gelandet.
Die „Identität“ der Situation kann nicht festgestellt werden. Wir können immer nur annähernde Beschreibungsversuche
machen…
Herbert: Ja, auch daß sie als Objekt nicht 100%ig beschrieben werden kann in dem Sinn, daß jetzt ein anderer
Beobachter dasselbe identische Objekt beschreiben würde…
Christiane: so viele Situationen wie Beobachter anwesend sind, sag ich manchmal. Das klingt so banal,
aber so wird’s erst interessant.
Herbert: Das Phänomen kann nicht erfaßt werden wie in einer Skalierung. Das will ich vielleicht nachher
nochmal sagen, aber erste Voraussetzung könnte ja sein, daß es das Phänomen in seiner Einfachheit und Wiederholbarkeit
möglicherweise gar nicht gibt. Also ein und dieselbe Welle im Meer könnte es theoretisch vielleicht nochmal geben, aber
es ist jedenfalls nicht feststellbar, daß ein und dieselbe Welle genau identisch wie eine Vorgängerin oder Nachfolgerin
ans Ufer kommt. Und trotzdem kommen dauernd Wellen ans Ufer, ja?
Christiane: Und wir beobachten ohne Unterscheidungskriterien. Sie scheinen mehr oder weniger alle gleich
auszusehen. Aber sie sind es nicht, oder?
Herbert: Also die erste Hypothese ist: Es kann sein, daß es das Phänomen wirklich nicht stabil und wiederholbar
gibt. Sondern daß es eben flüchtig ist. Und das zweite Argument ist die Überkomplexität, was wir eben (nachdem unbemerkt
das Band abgelaufen war) diskutiert haben. Da hast Du gefragt: Führt die Bezeichnung Überkomplexität nicht zu einer
Verharmlosung der Komplexität?
Christiane: Ja, mir machen die Konsequenzen Sorgen, die der geneigte Hörer oder Leser möglicherweise aus
der Beschreibung von Situationen als „überkomplex“ ziehen könnte. Z.B.: Okay, dann befasse ich mich am besten gar nicht
damit, denn überkomplexe Phänomene sind eh nicht zu verstehen.
Herbert: Da würde ich eben mal so ganz grundsätzlich eine Ableitung von verschiedenen Komplexitätsstufen
machen. Und zwar, wenn man’s mal ganz grundsätzlich macht, kann man sagen: Die einfachste Komplexität ist die Identität,
ja? Z.B. dieses Glas, das ist, so wie wir jetzt im normalen Bewußtsein sagen: das ist eine Identität. Das Glas ist das
Glas ist das Glas. Wie der Positivismus: a rose is a rose is a rose. Gertrude Steiner, der berühmte Spruch…
Christiane: und mein Glas hat dann dieselbe Identität wie Deins?
Herbert: Wie das? Nö…wenn man sagt: dieses Glas. Dann ist dieses Glas logischerweise nicht dieses Glas.
Das ist nur eine sprachliche Ungenauigkeit. Man müßte sagen: dieses Glas und jenes Glas, ne? Aber diese, also die
Id-Identität, also auf Lateinisch ist das ja ens als das Seiende – und Id-Identität ist praktisch eine Verdoppelung
oder Verstärkung: dieses Seiende. Und wenn man jetzt sagt: dieses Seiende, dann ist es logischerweise nicht jenes
Seiende…
Christiane: und wenn Du morgen alle zwölf Gläser in einer Reihe im Regal siehst?
Herbert: Da kommt dann das nächste Phänomen, nämlich die Linearität. Also, man kann jetzt von der ersten
Identität zur zweiten, zur dritten, zur vierten weitergehen, weil das eine Reihung ist, oder weil ein und dieselbe
Identität ihren Platz verändert, z.B. auf einem Fließband oder was ähnlichem. Also wäre der nächste Punkt nach der
Identität die Linearität. Und die kann jetzt wiederum in zwei Formen gedacht werden, nämlich als Verbundenheit oder
als Differenz.
Der amerikanische Konstruktivismus z.B. geht mehr - der Pragmatismus auch - von einer Differenztheorie aus. Da
gibt’s den schönen Spencer Brown-Satz: „Draw a distinction“. Ist egal, was los ist. Mach einfach hier – Identität des
Glases – mach einen Unterschied – was ist auf der anderen Seite? Daraus ergibt sich dann die sogenannte Formtheorie von
Dirk Baecker, der sagt: Gut, wir können einen Unterschied machen, müssen dann aber sagen: Was ist jetzt unsere Identität?
Nein, der würde nie von Identität reden, sondern vom System. System auf der einen Seite und Umwelt auf der andren
Seite, ja?
Dann gibt es als nächstes die Zirkularität: A erzeugt den Unterschied zu B, B erzeugt den Unterschied zu A und C,
und C erzeugt den Unterschied zwischen A und B usw., ja? Das ist diese zirkuläre Struktur. Und das ist jetzt eine Form,
wo zum ersten Mal eben Poiesis mit reinkommt – und es ist `ne Struktur, die über die Banalität hinausgeht, weil die
zirkuläre Erzeugung von Stabiltät, wenn man so will, weit über die reine Binärkodierung der Phänomene hinausgeht.
Und die Differenzmethode ist ja einfach eine Binärcodierung. Ich hab auf der einen Seite eine Identität, dann die
Differenz auf der anderen Seite: keine Identität.
Oder wie hier: Strom. Ich kann das Licht anschalten oder ich kann es ausschalten. Ende der Durchsage.
Das ist die eigentliche binäre Banalität. Und wenn man jetzt die Binärcodierung auf Dauer stellt, dann hat man so
richtig die banale Struktur. Ich brauche nur A oder B sagen und das funktioniert auch immer.
Dann ergibt sich aus der Binärcodierung die sogenannte Trivialität. Darin steckt das Wort „tri vium“ oder drei,
lateinisch drei. Das ist die Entscheidungsstruktur bzw. die Struktur, wo es drei Möglichkeiten gibt: wie: ja – nein –
vielleicht. So, und das hat auch eine gewisse mythologische Bedeutung. Die Dreierentscheidung, da muß noch ein Geheimnis
dahinter sein. Aber das wird mir jetzt zu viel, das auch noch einzubauen…
Christiane: Mit der Dreierentscheidung beginnt Komplexität?
Herbert: Wenn man die Dreierentscheidung, das Trivium, die zirkuläre Struktur hat, dann entsteht das Phänomen
der Komplexität. Das heißt also, wenn die Zirkularität etwas poietisches hat: A beobachtet BC, B beobachtet AC,
C beobachtet AB - und man nimmt an, daß dann jeweils der Beobachter sich nach der beobachteten Struktur richtet,
dann entsteht eine Stabilität. Und diese Stabilität insgesamt, der Code, der dadurch entsteht, sozusagen der
Kommunikationscode, der erzeugt neue „Identität“. Und die könnte man einen Komplex nennen. Und diese Komplexität
muß nicht banal sein. Die kann sich also jedes Mal anders verhalten, und sie muß noch nicht mal trivial sein. Also
die kann auch rückwärts entscheiden oder gar nicht entscheiden usw. usf., ja? So, und wenn man also einen Komplex
beobachtet, dann würde ich das Komplexität nennen.
Und dann kommt man zu der Frage: Was heißt denn dann Überkomplexität? Und da würde ich ganz einfach mal als erstes
so sagen: Wenn es entweder empirisch oder logisch, also denklogisch modellhaft, für den Beobachter gar nicht möglich
sein kann, die Komplexität vollständig zu beobachten oder zu beschreiben – und das muß nicht mal etwas sehr
kompliziertes sein, sondern…
Wir hatten doch eben, als das Band ausging, das Beispiel vom blinden Fleck im Auge. Das ist was Überkomplexes,
obwohl es von der Konstruktion her relativ einfach ist. Es ist einfach nur die Tatsache, daß das Auge den eigenen
blinden Fleck partout nicht sehen kann. Deswegen heisst er ja auch so.
Christiane: Warum nenne ich es dann nicht so?
Herbert: Blinder Fleck?
Christiane: Ich meine, das Phänomen ist klar, ist ja schon oft beschrieben worden, als etwas, das für mich eben
nicht erkennbar ist, nicht sichtbar. Ich kann noch nicht einsehen, warum ich das überkomplex nennen soll. Was hat das
mit geringer oder großer Komplexität zu tun, wenn ich etwas nicht sehe?
Herbert: das ist einfach nur…
Christiane: Der Beobachter geht ja hin und beobachtet ein wie auch immer komplexes System… Ich meine, was
auch immer er erkennt oder nicht erkennt, sagt möglicherweise über das beobachtete System weniger aus als über seine
Wahrnehmung.
Herbert: Das Komplexe ist als Komplexes beschreibbar. Das kann noch so kompliziert sein, irgendwann mal hab
ich es beschrieben. Oder ich kann es jedenfalls beschreiben. Und da, wo ich es nicht beschreiben kann, kann ich auf
eine Beschreibung zweiter Ordnung oder zweiter Ebene zurückgreifen und daraufhin beschreiben: Da und da gibt es
bestimmte Gebiete, die nicht einsehbar sind usw usf., ja? So, jetzt ist aber bei der Überkomplexität diese Feststellung,
daß ich etwas nicht beschreiben kann, einfach nicht möglich, weil ich es nicht überblicken kann.
Christiane: Mhm…Wie kann ich dann erkennen, was ich nicht sehen kann?
Herbert: Also, wenn man dem Auge jetzt ein Rede gehalten hätte: Du hast einen blinden Fleck und das haben wir
mit Hilfe von indirekten Methoden rausgefunden… Das Stichwort „indirekte Methode“ ist überhaupt für die Situationsdynamik
noch wichtig!
Also direkte Situationsbeschreibungen und Situationsbeschreibungen mit indirekten Methoden… Aber nochmal zurück.
Wenn das Auge auf indirekte Zusprüche verzichten muß, dann käme es überhaupt gar nicht auf die Idee…
Christiane: … daß da überhaupt ein blinder Fleck sein könnte?
Herbert: So, ja? Wenn man bei der Situation, wie gesagt, wenn man sich mal darauf einläßt, da käme ein Beobachter
gar nicht auf die Idee, überhaupt zu versuchen, dieses Eine…zu beschreiben zu versuchen. Es ist auch deswegen überkomplex,
weil es ja nur einmalig ist. Das ist ja auch flüchtig, ja? Es geht so schnell, daß selbst, wenn man da sagt: das war ein
sehr komplexes Ereignis. Man kann’s nicht beschreiben.
Und wenn man dann fragt: Und? Hast Du es denn erkannt? Und könntest Du es jetzt auch von mir aus mit Hilfe von
Beobachtung zweiter Ordnung beschreiben? Dann würde er sagen: Nee. Und zwar deswegen, weil ich gar nicht weiß, wo ich mit
erster, zweiter oder dritter Ordnung überhaupt antworten kann.
So, und das nenne ich dann eben die Überkomplexität. „Über“ soll ja heißen, es gibt erstmal Komplexität und das liegt
jetzt nicht nur über im Sinne von mehr Komplexität, sondern es ist über der Komplexität, so wie es in der Mathematik z.b.
bei manchen Rechenarten so etwas gibt, z.B. bei einer Ableitung...
Also, es ist eine Umformung des Beobachtungssettings, so daß das Phänomen der Komplexität selber in das
Komplexitätskalkül einbezogen wird. Vielleicht kann man sogar so sagen: Die Beobachtungsstrategie verändert sich,
wenn ich mich entschließe, von der Komplexität auf die Überkomplexität überzugehen.
Also bei der Komplexität versuche ich geduldig wie ein alter Esel diese Komplexität zu erarbeiten, bis sie
beschrieben ist, übersichtlich ist, reduziert ist, wie auch immer. Und bei der Überkomplexität versuche ich das erst
gar nicht, weil ich ja auf einer Ebene über (klopft auf den Tisch) der Komplexität bin.
Das heißt: Ich kann höchstens das Phänomen der Komplexität als solches in mein Kalkül einbauen. So herum gesagt, ja?
Also, z.B., wenn man mit dem Denkmodell der Black box arbeitet…
Was ändert sich, wenn wir Situationen „überkomplex“ nennen?
Christiane: Ja, gut…, heißt das dann am Ende: Okay, ich muß halt die, gut, nennen wir es wir mal die
„Überkomplexität“, die ich als Beobachter diagnostiziere, akzeptieren wie eine black box und versuche gar nicht erst
eine Beschreibung?
Herbert: Zum Beispiel, ja. Akzeptieren? Ja, da kommst Du eigentlich auf die Frage, wie man da emotional dazu
stehen kann. Ist eigentlich richtig. Also, ich kann’s akzeptieren. Ich kann auch resignieren. Es kann vielleicht sogar
was Zynisches haben, daß ich dann sage: So, das ist jetzt was, wo ich die Komplexität als black box feststelle und jetzt
heidewitzka, da kann man nix beschreiben. Wir machen jetzt was anderes.
Christiane: Also ignorieren wir diesen Ameisenhaufen, weil das Gewimmel sowieso undurchdringlich ist?
Meine Frage betrifft vor allem den Aspekt: Was mache ich dann damit?
Herbert: Das kann zu neuen Ausblendungen führen. Das hat schon seine Gefahren, diese Operation…
Christiane: mhm, das sehe ich auch so!
Herbert: Aber es hat auf der anderen Seite auch ’ne gewisse Kultur, daß man nicht in so eine Art von
wissenschaftlicher Verzweiflung reingeht oder z.B. in so eine Art von Fortschrittsideologie, wo man sagen würde:
irgendwann werden wir schon die Überkomplexität der Situation im Griff haben! Sondern daß man sagt: nee, nix ist. Wir
versuchen das erst gar nicht. Es ist nicht unsere Forschungsstrategie, jetzt die Überkomplexität trockenzulegen und zu
domestizieren, sondern was haben wir dann wieder, wenn wir das lassen? Neuen Alltag!
Christiane: Das ist dann ein qualitativ anderer als der graue, sinnentleerte Alltag, über den Du eingangs
gesprochen hast?
Herbert: Ja, insofern könnte man sogar sagen, man sollte die Überkomplexität schützen wie ein Biotop. Man geht
ja auch nicht in ein Biotop rein und sagt: So, jetzt wird hier alles mal so leben gelassen wie es autopoietisch lebt.
Sondern wir gehen gewöhnlich da rein und tun jetzt mal alles schön quadratisch praktisch gut ordnen. Dann ist das
Biotop ja weg. Und entsprechend könnte man auch die Überkomplexität wie ein Biotop achten und möglicherweise sogar
bewußt autopoietisch sich entwickeln lassen. Wenn man der Überkomplexität gegenüber steht, könnte man sich bescheiden,
in dem Sinne sozusagen: Ja, das ist überkomplex. Und damit ist es jetzt juut.
Das heißt: Wir können den Input und wenn man will, den Output, wo immer auch der herkommt, beobachten. Wir können
ästhetische Phänomene beobachten. Wir können Teilphänomene beobachten. Wir können x und y beobachten. Es gibt tausend
Sachen, die wir damit machen können. Bloß das eine machen wir nicht: nämlich jetzt die Maschine sozusagen öffnen.
Weil nämlich sonst das schöne Kinderspiel entsteht: Hattu Menne puttemacht? Ja, twei Tück. Muttu auch ganz machen!
Lacht… Da gibt’s so einen Witz, den kriege ich gar nicht mehr zusammen. Aber dieser Spruch da drin.
Christiane: Wie ging der noch?
Herbert: Hast Du das Männchen kaputtgemacht? Ja, zwei Stück. Mußt Du auch ganz machen! Die Komplexität
kann man allerdings nicht in dem Sinn kaputtmachen, daß man sie analysiert.
Christiane: Eben! Und vermutlich könnte man ein komplexes System auch als solches nicht mehr reparieren,
wenn’s mal wirklich kaputt ist. Ich stelle mir das gerade mal mit dem komplexen lebenden System des Wetters vor – und
stelle mir vor, Menschen wollten das versuchen! Sobald das Wetter sich nicht mehr kompatibel mit unseren menschlichen
Bedürfnissen verhält, gibt es sehr bald keine Menschen mehr - irgendeine Art von Wetter aber vermutlich sehr wohl.
Herbert: mhmmmm! (Hat den Mund voll Keks und kann gerade nicht antworten…)
Christiane: wir reden jetzt also gerade mal nicht über philosophische Ideen, sondern über das Phänomen "Wetter"…?
Herbert: Ja, aber Christiane! Wir haben doch ein viel einfacheres Beispiel. Du hast es eigentlich schon selber
gesagt. Das lebende Phänomen! Das ist ein schönes überkomplexes Beispiel. Der Übergang vom Experiment in vivo im
Unterschied zur Pathologie. Man kann ja auch nicht jeden Menschen, den man untersuchen will, erstmal killen, damit er
in der Pathologie seziert werden kann. Und dann kommt man zurück und sagt: Aach ja, der hat ein Aneurysma oder was
gehabt. Und dann kann man sagen: Danke schön! Er hat’s gehabt, ja?
Christiane: Stimmt, der Pathologe weiß alles, aber er weiß es immer zu spät.
Herbert: Das ist so ähnlich eben auch mit diesem Gedanken der schützenswerten Überkomplexität. Wenn man
also hinginge und die Überkomplexität reduzieren wollte, dann wäre das, ich möchte es jetzt im Moment mal so nennen:
die Pathologie-Operation. Die Pathologieverfahrensweise. Aber dann hätte man ja eben auch ein pathologisches Ergebnis.
Und das will man ja möglicherweise nicht. Also muß man im Umkehrschluss sagen: Dann brauche ich eine andere
Forschungsstrategie in dem Sinn, daß ich die Biostrategie anwende, es also leben lasse und daraufhin sage: Ja, okay,
aber ich kann daraufhin nicht genau wissen, was es ist. Ich kann nur sehen, ob es überlebt, ob es besser lebt, ob es
sich entwickelt oder was auch immer….
Christiane: …mhm…, und wenn wir das jetzt wirklich mal aufs Wetter anwenden?...
Herbert: mhm?
Christiane: … ich meine, letzten Endes ist es dem Wetter doch vermutlich scheißegal, was wir damit machen bzw.
ob wir es als komplex oder überkomplex bezeichnen. Wenn’s regnet, spannen wir den Regenschirm auf und wenn’s zu heiß
wird, lassen wir am Tag die Rolläden runter…
Herbert: Aber wir wissen nicht, ob die Beobachtung des Wetters das Wetter nicht selber verändert. Könnte ja
sein, oder? Das nennt man in der Sozialwissenschaft das Problem der nicht reaktiven Messverfahren. Unter dem Aspekt der
mechanischen Physik…ähm… (gähnt)… schien das… ein Thema zu sein, das man gegessen hat… So, aber, jetzt kommt man aber
in der Physik, die jenseits der normalen mechanischen Physik liegt, plötzlich zu Phänomenen, wo das gar nicht mehr stimmt.
Und wer weiß, ob das Wetter nicht eins von den Phänomenen ist, das sich gerade nach der Beobachtung richtet.
Gut, ich bin kein Meteorologe, ich kann das nicht technisch begründen, aber ich könnte… vom Alltagswissen her:
Wenn du sagst, wenn’s regnet, spannen wir halt unsere Schirme auf. Wer weiß, ob durch die Schirme nicht ein Wärmeeffekt
erzeugt wird, der daraufhin wieder die Menge des Niederschlags reguliert.
Christiane: mhm? Vielleicht könnte man so Überschwemmungen in China verhindern?
Herbert: gell, verstehst Du?
Christiane: na ja, gut, möglicherweise sind wir ein Teil des Systems, können aber auch das nicht wissen,
weil wir nicht wissen, wie wir es untersuchen könnten.
Herbert: genau…
Die Pathologie-Operation
Christiane: Worauf ich hinauswollte, war das Definierende. Ob ein lebendes System sich tatsächlich so
stark beeinflussen läßt von unserer Theorie darüber, ob wir es als komplex oder überkomplex bezeichnen oder ob wir sagen:
wir müssen es schützen oder nicht? Ich überlege mir gerade, auf welche Systeme sich diese Aufforderung oder diese
Überlegung beziehen könnte... Dann doch schon eher auf soziale Systeme, oder?
Herbert: Die Überkomplexität? Nö…, …
Christiane: Schutz von Biotopen? Welche denn?
Herbert: Nee, hier, das Phänomen der Situation. Das ist mein Thema, ja? Ein und dieselbe Situation, jetzt
unter all dem betrachtet, was wir hier so besprochen haben, möglicherweise auch in der Form zu achten, daß man sagt:
ich tu meine Forschungsstrategie von vorn herein nicht auf eine 100%ige Analyse oder so was ausrichten. So, wie wir
eben gesagt haben, kann man das aus den verschiedensten Gründen so handhaben: z.B. resignativ, z.b. weil man sagt, es
geht eh nicht, vergiß es, Agathe! Aber auch eben unter dem Gesichtspunkt, wenn man’s mit dem Fachbegriff sagen will:
daß wir keine Artefakte herstellen. Beispiel in der Pathologie. Dann hab ich zwar, z.B. von einer Situation, sagen wir
mal ein Foto…, wo ich doch hier eben die ganze Zeit nach Fotos gefahndet hab (klopft auf Christiane’s Dokumentation
ihres letzten Team-Trainings)… Ich hätte da also ein Artefakt, aber siehe da, dieses Artefakt ist alles mögliche,
bloß keine Situation…
Christiane: …die Dokumentation umkreist oder umschreibt allenfalls annähernd Situationen, stimmt.
Herbert: Und das Problem ist, wenn ich es hinterher als Situation verkaufe, dann krieg ich wirklich ein
Problem, weil dann verkaufe ich etwas, was ich gar nicht hab.
Christiane: ’ne Leiche…
Herbert: Ja, ’ne Leiche…
Christiane: … und nicht mal die habe ich…
Herbert: Ja? Und das ist dann, jetzt, wenn man’s konkret wieder auf die Trainingsebene, auf die
handlungstheoretische Ebene in der Situationsdynamik bringt, dann würde ich sagen: Das wäre der Übergang in die
sogenannte Fallarbeit. Ja? Da muß man ja auch aufpassen, in der Supervision z.B., daß man nicht den Fall in der
Fallschilderungsform, wie der Klient den mitbringt, mit der dort passierten Situation verwechselt.
Christiane: mhm…, ja, klar, die ich ja gar nicht kennen kann…
Herbert: Na gut, dann kommt noch die ganze Theorie mit dem Michael Balint und den Resonanzphänomenen usw…
Christiane: Mhm, okay, ich schätze, es steckt in der Begriffsbildung „Überkomplexität“ auch eine Aufforderung,
mit Situationen auf eine spezifische Art und Weise umzugehen, und zwar, nicht davon auszugehen, daß man sie in
irgendeiner Weise in den Griff kriegen könnte. Das kann ich nachvollziehen. Diese Auffassung könnte ein bißchen
bescheidener machen.
Exkurs über die Beherrschbarkeit kleiner und großer Phänomene
Herbert: Genau, man geht ja vermutlich im Alltagsbewußtsein davon aus, daß nur Riesenphänomene nicht in den
Griff zu kriegen sind, daß die kleinen Phänomene beherrschbar sind und die großen eben nicht. Ich meine, in der
SD haben wir ein schönes Beispiel, daß das nicht stimmt. Also, wenn man das mal so sagen will. Das kann man ja auch
graphisch darstellen. (zeichnet eine weitere Skizze mit X- und Y-Achse) Also, nehmen wir mal an, X ist das Parameter
für Klein am einen Ende und am anderen Ende ist Groß – und Y ist das Parameter links für Nicht beherrschbar und rechts
für Beherrschbar:
Wenn man nun sagt, kleine Phänomene kann man beherrschen – und große Phänomene kann man nicht beherrschen, dann würde
so eine Kurve entstehen (zeichnet die Kurve so ein, daß die maximale Beherrschbarkeit bei den kleinen Phänomenen eintritt)
Die Situationsdynamik würde dagegen sagen, die kleinen Phänomene kann man nicht beherrschen, aber die großen kann man
beherrschen (zeichnet eine gegenläufige Kurve). Das wäre also genau umgekehrt, das Beispiel der SD. Und die erste Kurve
wäre das Beispiel des üblichen Alltags. Da wird ja auch behauptet: Der Alltag ist im Kleinen beherrschbar. Nur die USA
als Riesenphänomen kann man nicht beherrschen. Die Situationsdynamik würde dagegen sagen: unsere Situation kann man nicht
beherrschen. Aber die USA kann man beherrschen.
Christiane: Und wie geht das?
Herbert: Warum man die USA beherrschen kann? Weil sie ein durch ihre Begrifflichkeit bereits festgelegtes System
ist. Das ist ein Wort, wenn man so will. Wenn jetzt jemand sagt, Situation ist auch ein Wort, dann stimmt das, dann hat
man erstmal Waffengleichheit. Aber was mit dem Wort Situation gemeint ist, das Hier-und-Jetzt, das ist eben – kommen wir
jetzt einfach nochmal drauf zurück – überkomplex.
Wenn man jetzt ontologisch argumentiert, indem man sagt: Ja, wo ist denn die USA? Da wird der Eine sagen, ja,
das ist 6.000 km von hier weg. Mag ja sein, aber in der kommunikativen Praxis ist es hier! Als das kommunikative Thema
sind die USA immer hier, sogar auch mit dem Parameter. Es ist hier – und zwar in einer Entfernung von 6.000 km. Also,
als Thema muß es hier sein, in welcher Form auch immer. Also, die UDSSR…
Christiane: … die war einmal und ist nicht mehr…
Herbert: (lacht) Okay, man sagt im Allgemeinen: Die USA sind schwer beherrschbar. Sie sind weit weg und es ist
ein Riesenphänomen.Und die Situationsdynamik würde sagen: Nö, das stimmt ja schon mal deswegen nicht, weil als Thema
sind die USA hier! Und wenn ich dann die anderen beiden Gründe oder Argumente lasse, daß das sehr flüchtig und sehr
komplex ist, was da passiert, dann kann man sagen: Ja, aber dann passiert’s ja trotzdem hier - und sonst nirgends.
Also, ich würde sagen: Die USA sind nirgends auf der Welt komplex, weil es die USA in diesem Sinn gar nicht gibt.
Es gibt nur das Wort USA – und die Denkform, die wir hier haben, um ein Phänomen, das wir USA nennen, zu beschreiben.
Wenn ich jetzt z.B. in Nebraska mit Schlittenhunden unterwegs bin, ist das dann USA?
Christiane: nee…
Herbert: Nicht wahr, das ist das Rumlaufen mit Schlittenhunden. Ich kann nämlich genauso gut in Grönland das
selbe machen…
Christiane: auch nicht USA…
Herbert: Das ist heute Dänemark, oder? Jedenfalls, ich weiß gar nicht, die sind inzwischen selbstständig.
So, das heißt also: USA in diesem Sinne gibt es gar nicht. Das ist höchstens ein Rechtskonstrukt, also das, was die
Verfassung der USA beschreibt und die Grenzen, die drum herum sind, ja? Von daher kann man also argumentieren:
Gerade diese Großbegriffe sind leer. Hegel würde das auch sagen. Okay, das ist ein philosophisches Grundproblem:
Was ist abstrakt? Was ist konkret? Was ist voll? Wo herrscht Fülle und wo herrscht Leere?
Was ermöglicht Situationsdynamik?
Herbert: Ich will das ja auch gar nicht dogmatisch festlegen, so wie man jetzt an dem heutigen Abend sieht.
Die Grundkonzeption von Situationsdynamik ermöglicht aber den Dialog oder den Diskurs darüber, was abstrakt, was konkret,
was voll und was leer ist. Darin sehe ich den Vorteil der Situationsdynamik. Es muß nicht sein, daß es heißt:
SD legt bestimmte Denkwege fest, sondern es reicht, wenn man sagen kann: SD macht eine andere Diskursstrategie möglich,
die vorher nicht möglich wäre, indem sie auf ein bestimmtes Phänomen, nämlich die dynamische Situation aufmerksam macht.
Es ist in anderen Wissenschaften ja genauso.
Wenn ich z.B. sage: Es gibt Ethik! Dann kann ein anderer sagen: Wieso gibt’s Ethik? Ethik gibt’s überhaupt gar nicht.
Was soll denn der Quatsch? Ethik gibt’s nicht. Oder: In der Theologie oder der Religion: Es gibt Gott. Die einen sagen:
Ja klar, gibt’s Gott. Die anderen sagen: So ein Quatsch. Mit den säkularen Begriffen ist es doch genauso, indem einer
sich hinstellt und sagt: es gibt Ethik. Da kann man sagen: zeig mir sie mal.
Christiane: Wo hast Du sie versteckt?
Herbert: Ja, und dann wird er vielleicht irgendwelche Teilphänomene zeigen, wie z.B. ein riesendickes Lehrbuch
der Ethik. Aber dann kann man sagen: Das ist doch nicht die Ethik! Ethik als dieses Wort, als diesen Begriff,
gibt es nicht empirisch, sondern es ist ein Großbegriff, der über die Empirie rausgeht und deswegen behaupte ich,
daß er nicht komplex ist. Der ist sowas von furzeinfach. Nämlich insofern, daß das einfach ein Wort jetzt ist. Also gut,
das ist jetzt bös’ übetrieben.
Christiane: mmhm…, das glaub ich aber auch.
Herbert: Okay, aber bleiben wir mal bei der Aussage: Die USA ist einfach nur ein Wort. Was soll an einem Wort
komplex sein? USA. Das Wort kann ja wohl auch ein Erstklässler schon, oder? Und was ist dieses Wort USA, wenn wir damit
operieren wollen? Dann ist es ein Sachthema hier und jetzt. Die Operation heißt dann aber: es gibt ein Riesenfeld von
Empirie. Die Bezeichnung, die da drüber ist, ist aber als Bezeichnung ganz einfach ein Wort: Man könnte es genauso gut
ABC nennen oder „The Northern Part of the American Continent“. Da sieht man also, man kann anstatt USA zu sagen, diese
vielen empirischen Sachverhalte ganz beliebig bezeichnen. Und was soll an diesen Lautformen, an diesen Schriftzeichen,
was soll daran komplex sein?
Christiane: Klar, die Bezeichnung als solche ist nicht komplex. Bloß das Wissen eben, daß diese drei an sich
leeren Buchstaben etwas assoziieren, so viele Welten bergen, diese vielen Millionen Menschen und was sie seit der
Geschichte ihrer Auswanderungen von Irland, Italien, Griechenland z.B. gemacht haben? Alles das, was es für mich zur
Zeit gerade darstellt. Ein Volk von Kriegstreibern? Von Träumern und Machtgeiern? Der Wiege der Demokratie?
Kontinent der Revolutionen, Widersprüche, Befürchtungen und Hoffnungen .. und was einem noch alles dazu einfallen könnte…
Herbert: Das könnte man jetzt in der Linguistik diskutieren, das sogenannte Bezeichnete und das Bezeichnende.
Oder man könnte es in der Semiotik diskutieren unter dem Aspekt: Zeichen und Bezeichnetes, bis hin zur Symbolik.
Christiane: mhmhm, aha …(gähnt) und dann? Was wird dann daraus?
Herbert: Ich behaupte, in dem Moment, wo es einfach linguistische Zeichen sind, ist das ganze
Komplexitätsproblem gelöst. Was soll an einem Zeichen kompliziert sein? Ganz im Gegenteil, wenn das Zeichen kompliziert
ist, verliert es wieder seinen Zeichencharakter.
Christiane: Gut, das ist mir klar, das Zeichen selbst ist kein großes Phänomen…
Herbert: Das damit Bezeichnete ist aber ein - sagen wir mal - riesiges Phänomenfeld, ja?
Christiane: Eben, und das ist dann beherrschbar? Das verstehe ich glaube ich heute Nacht nicht mehr!
Herbert: was meinst Du? … die drei Zeichen?
Christiane: Nee, das riesige Phänomenfeld, indem ich es auf ein Zeichen bzw. auf drei Buchstaben zurückführe.
Herbert: Ja, das Zeichen ist doch beherrschbar…
Christiane: Ja, das Zeichen schon, aber das Bezeichnete, die Größe des Phänomenfeldes,
das die drei Buchstaben USA bezeichnen und sobald ausgesprochen, in den Vorstellungen wachrufen?
Herbert: Ja, aber das ist doch die Frage: Wo erscheint denn die USA jemals als Phänomen? Die erscheint
doch nie! Du kannst doch das als Phänomen niemals…
Christiane: … es sei denn, das Bezeichnete erscheint hier und jetzt vermittels des Zeichens im Gespräch?
Okay, dann ist alles außerhalb des Hier und Jetzt gar nicht als Phänomen existent, oder?
Herbert: So, jetzt haben wir aber genug geschafft, oder? Hast Du das Gerät wieder ausgeschaltet?
Christiane: noch nicht…, aber ich muß wieder mal einsehen: Es läßt sich wirklich nichts wiederholen. Unser nicht
aufgenommener Dialog von vorhin ist einfach futsch…
Herbert: Den haben wir aber wieder reingeholt, das war doch nur ein kleines Stückchen, das mit dem Blinden
Fleck im Auge des Betrachters? Meintest Du das?
Christiane: Ja, schon, aber da war doch noch mehr. Der Kontext war, soweit ich mich erinnere:
Situation hat nicht Identität und Dauer, sondern zeichnet sich durch Flüchtigkeit aus.
Wissenschaft setzt sich deshalb nicht mit dem Nahbereich, der Situation, auseinander, sondern geht von der
Steuerbarkeit und Kontrollierbarkeit der vorhandenen Strukturen des Nahbereichs aus. Insofern scheint der Nahbereich
oder der Alltag beherrschbar... Im Gegensatz dazu definierst Du Situation (als Gegenbegriff zum grauen Alltag)
als überkomplexes und folglich nicht beherrschbares Phänomen. Soweit kann ich folgen.
Meine Frage war: Führt unreflektiertes Nutzen des Begriffs „Überkomplexität“ nicht zumindest zur Versuchung der
Trivialisierung von Komplexität? Was kann denn letztlich über Komplexität hinaus wahrgenommen werden? Du hattest dann
im Gespräch auch die Differenz "soziales System" mit seiner Komplexität versus "Situation" mit ihrer Überkomplexität
gebildet, wenn ich das richtig verstanden habe. Wie würden Situationsdynamiker dann die Situation eines sozialen Systems
zum Zeitpunkt xy bezeichnen? Wird die Situation, wenn es die Situation eines sozialen Systems ist, weniger komplex?
Für heute würde ich unser Gespräch gern mit der Hypothese beenden: Vielleicht können die Protagonisten eines
sozialen Systems bloß nicht erkennen (der blinde Fleck des Auges als Entsprechung zu einem sich selbst beobachtenden
System, das sich auch nicht direkt selbst beobachten und erkennen kann), daß auch sie qualitativ „überkomplex“ existieren.
FORTSETZUNG FOLGT!
Herbert Euschen und Christiane Schmidt, Mannheim, 8.6.2008
Lektorat:
Herbert Euschen, Lehr-Trainer (SD),
Lehr-Supervisor (SD) und Organisationsberater (SD)
Transkription und Textbearbeitung:
Christiane Schmidt, Supervisorin (SD), Trainerin (SD)
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