Führungskultur im Krankenhaus


Soziologisches Modell der Situationsdynamik

Der situationsdynamische Ansatz stellt die Situation mit ihren konstitutiven Elementen, die beteiligten Personen (als Ich und als Gruppe), die Sache und die Intentionalität in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Situation ist überkomplex und die Akteure erleben auf der Wahrnehmungs- und Handlungsebene die Situation nur ausschnitthaft bzw. aspekthaft. Der Ansatz wurde von Ursula Geißner und Herbert Euschen als Analyse und Beschreibungsansatz für die Komplexität von Situationen entwickelt. (Euschen/Geissner 1991)

Der situationsdynamische Ansatz zeichnet verschiedene Entwicklungslinien nach. Ausgehend vom psychoanalytischen Konzept zur Klärung des Ich als dynamisches Geschehen zwischen Es und Über-Ich werden die individuellen Einflussmöglichkeiten wie Werte (Beobachtungskategorien), Wahrnehmungsfilter, Deutungsmuster in Bezug auf die Situation erfasst. In der Ich-Wir-Beziehung werden die Wirkungsmerkmale und gruppendynamischen Aspekte und Wirkungsmerkmale für die Situation erfasst.

In der Tradition von Ruth Cohn (TZI) ist die Komplexität der Situation nicht nur durch das Ich und Du (Wir) und die daraus entstehende Dynamik bestimmt, sondern Menschen begegnen sich auch immer unter einem Thema, das die Situation mit einer Sachdynamik anreichert. In der themenzentrierten Interaktion vollzieht sich nach Cohn folgendes: Menschen, die verschiedenen äußeren Bedingungen unterstellt sind, finden sich unter gemeinsamen Themen/Aufgaben zusammen. Diese Begegnung mit einer dynamischen Balance zwischen Ich-Wir-Es gewinnt eine feste Struktur von eigener Qualität und besonderem Erfahrungscharakter (mit Lerneffekt). Innerhalb der Struktur der Gruppeninteraktion wird der ganze Mensch mit seinem Wissen, seinen Gefühlen, Erfahrungen, Erwartungen und Befürchtungen angesprochen und zur selbständigen Auseinandersetzung mit wechselnden Problemen und Sachverhalten (Thematiken) angeleitet.

Über diesen Ansatz hinausgehend ist jede Situation im Verständnis von Euschen und Geißner sinnhaft. Mit dem systemtheoretischen Ansatz als Background, der Sinn als universelles Medium und Verweisungshorizont versteht, wird alles in der Welt sinnhaft. Intentionalität wird als dynamische Einflussgröße für die situative Gestaltung erfasst. Philosophisch lagert sich der Ansatz damit an Schütz, Husserl und andere Vertreter der Phänomenologie an. ( vgl. Esser 2000 S.2-5). Der situationsdynamischen Ansatz ermöglicht in der Analyse von Situationen zu beobachten, welche Dynamik gerade dominiert, erlaubt aber auch den Beobachterfocus zu wechseln, um zu einer differenzierten Beschreibung der Situation zu gelangen.



Ausblick auf Professionalisierung von Führung

Die Situation ist strukturiert durch die Beobachtung von Beobachtern. Der Eindruck der Unbestimmtheit und Beliebigkeit, den man vielfach hat, kommt dadurch zustande, dass die Situation asymmetrisch strukturiert ist. Die alteuropäische Tradition hoffte auf Querverbindungen zwischen der Qualität einer Sache, ihrem Preis und ihrem Stil, der die gefundenen Lösungen tradierbar machen würde. Aber genau diese Querverbindungen gibt es nur in den situativen Begründungen der Beobachter, die hier und jetzt und zufällig ins Gespräch kommen.

Folgt man dem Paradigmenwechsel in der Beobachtung von der Attribution hin zur Situation (Baecker, 2007) ergeben sich Konsequenzen für betriebspädagogische (Bildungs-)Programme zur Führungskräfteentwicklung. Die Forderung beinhaltet einen Abschied von der Vermittlung von Führungstechniken und dem Trainieren von Standardsituationen. In einem ersten Schritt muss es um das Verlernen von Wissen und Können gehen, das sich in der Vergangenheit als erfolgreich erwiesen hat, aber für neue Sichtweisen und Operationen dysfunktional ist. Training kann auch lediglich das Automatisieren/ Ritualisieren von Alltagskommunikation bedeuten, um die Aufmerksamkeitskapazitäten für Abweichendes zu erreichen.

Für Führungskräfte, die in attributionstheoretischen Paradigma operieren, bedeutet dies, dass die Personalisierung von Problemen aufgegeben werden muss. Dazu bedarf es eines Lernprozesses, in dem die eigenen Stereotypien, Vorurteile und internalisierten Deutungsmuster kommunikativ sichtbar werden, z.B. in gruppendynamischen Lernsituationen, wo bewusst bestehende situative Vorgaben des Alltags aufgelöst sind. Verlernen umfasst aber auch, die durch die betriebliche Sozialisation internalisierten Regelwerke der Organisation sichtbar zu machen und für Interventionen fruchtbar zu machen.



Schlussfolgerungen

Gesellschaft ist Kommunikation, und Kommunikation speist sich aus dem semantischen Themenvorrat. Soziale und semantische Strukturen - oder: Kommunikation und Kultur - treiben sich gegenseitig an. Indem Kommunikation laufend Selektionen aus der Kultur vornimmt, werden ständig strukturbildende Entscheidungen darüber getroffen, was in Zukunft zum legitimen Themenvorrat gehört und was nicht mehr dazu gehört.

Kommunikation produziert also Kultur, die wiederum in Kommunikationen zurückfließt. Man könnte auch sagen: Gesellschaft ist, daß kommuniziert wird, Kultur ist das Wie - oder: wie dies gesehen wird. Führungskräfte als personale Beobachter der Führungsdiskurses und der Führungskultur als Semantik benötigen, wie aus den Ausführungen erkennbar wird, ein hohes Maß an Beobachtungskompetenz, das sowohl in Bezug auf die Operation des Wahrnehmens als auch die Beobachtung der Wahrnehmung gerichtet sein muss. Die verlangten Qualifikationen für diese neue Art von Berufen sind z.B. die Fähigkeit, rasche Diagnosen relativ komplexer Sachverhalte zu erstellen, hohe Flexibilität im Reagieren, experimentelles Denken und Handeln.

Das impliziert hohe Aufmerksamkeit auf Rückmeldungen über die Auswirkung der in Gang gesetzten Prozesse und die Fähigkeit, situativ darauf zu reagieren. Und vor allem heißt das: Denken und Handeln in Prozessen, in die man selbst involviert ist. In Bezug auf Steuerung heißt dies, den Abschied von allopietischen Vorstellungen zu nehmen, die Steuerung als direkten Eingriff in ein System bzw. in die selbstreferentielle Kommunikation verstehen. Zum anderen gilt es aber auch, wenn man die Autonomie eines Systems würdigt, als Führungsperson nicht in die Laissez- faire-Agonie zu verfallen, dass Führung zwecklos, weil nicht zielgerichtet steuerfähig ist.

Die Frage nach der Steuerung sozialer Systeme drängt gerade deshalb, weil das mechanistische Modell keine ausreichende Orientierungshilfe mehr dafür liefert und neue Vorstellung von Führung entwickelt werden müssen. Steuerung findet in der Selbstbeobachtung des Systems statt. Steuerung ist damit für den Beobachter zu einem hochkomplexen Prozess geworden, der eine hohe professionelle Ausprägung einer Balance von Engagement und Distanzierung, von Klarheit und Ambiguität verlangt. Als Steuernder ist man selber in den Prozess involviert. Indem man sich als Beobachter des Systems vom System ausschließt, wird der Beobachter als Referenz des beobachteten Systems wieder eingeschlossen. Der Beobachter muss gleichzeitig in der Lage sein, das System als Ganzes wahrzunehmen (1.Ordnung) und die Wahrnehmung zu beobachten (2.Ordnung), die Beobachtung zu strukturieren, zu diagnostizieren und daraus Interventionen zu entwickeln, deren Folge er wiederum beobachten muss. Dies alles erfolgt in Ungleichzeitigkeit. Denn auch als Zuschauender, der bestenfalls als Spiegel fungieren will, ist man in den Prozeß involviert. Zuschauen und Spiegeln stellt eine Intervention in den Prozeß dar.

Die Vorstellung von Führung als Beobachtung der Semantik ist die Verabschiedung von der klassischen Differenz wie Teil/Ganzes, Mittel/Zweck und Ursache/Wirkung. Sie ist unter systemtheoretischen bzw. formtheoretischen Überlegungen durch die Unterscheidungen von System/Umwelt, Medium/Form, Operation/Beobachtung und Variation/Selektion zu ersetzen. Damit wird eine systemtheoretische, kognitivistische und evolutionstheoretische Perspektive in die Beobachtung eingeführt. In der Konsequenz läuft das darauf hinaus, die Idee der rationalen Organisation durch die Idee der intelligenten Organisation zu ergänzen. Ebenso wie die Idee der rationalen Organisation erhebt auch die Idee der intelligenten Organisation nicht nur deskriptive, sondern auch normative Ansprüche. Sie führt externe Gesichtspunkte der Organisationsgestaltung in die Organisation ein und ernennt das in der Organisation tätige Management zum Sachwalter dieser externen Gesichtspunkte.

Führung kann in dieser Funktion des Beobachtens als interne Folie (eigenes Deutungsmuster) auf zweckrationale Gesichtspunkte (Effizienz und Effektivität) zurückgreifen ebenso wie auf wertrationale Gesichtspunkte (Verantwortung und Nachhaltigkeit). Sie führt jedoch entscheidend systemrationale Gesichtspunkte ein, die die Auswirkungen der Organisation auf die Umwelt und damit wieder zurück auf die Organisation in die Beobachtung mit einführt.

Die aufgezeigten Unterscheidungen haben weitreichende Konsequenzen für Professionalisierung von Führung.

Aus dem Blickwinkel der System/Umwelt-Unterscheidung, die für eine soziologisch orientierte Führungslehre grundlegend ist, hat Führung die Funktion der Beobachtung der Grenze des Organisationssystems. Diese Grenze muß von Ereignis zu Ereignis der Systemautopoiese neu gezogen, bestätigt und variiert werden. Da die Organisation selbst für diese Grenze verantwortlich ist und Führung komplexitätsbedingt nur selektiv zur Kenntnis nehmen kann, kann man Führen nur als ein Re-entry der Grenze des Systems in das System zwecks Beobachtung dieser Grenze beschreiben.

Diese wieder eingeführte Grenze ist nicht identisch mit der Grenze. Selbst wenn im System mehrere Führungskonzepte miteinander konkurrieren, verfügt das System dementsprechend über unterschiedliche Vorstellungen seiner Grenze zur Umwelt. Neben der Grenze ist aber auch die Vorstellung über die Umwelt des Systems nicht identisch mit dem durch die Organisationsgrenze tatsächlich konstituierten System. Daraus ergibt sich für die professionelle Führung der Anspruch, die Führungskraft als Beobachter zu befähigen, die Differenz zwischen wieder eingeführter System/Umwelt-Differenz und konstituierender System/Umwelt-Differenz zu beobachten, selbst wenn diese Beobachtung es wiederum nur mit einer wieder eingeführten Differenz zu tun haben kann.


aus: "Führungskultur im Krankenhaus", S. 596 ff., Kovacz Verlag, Hamburg, 2010  

Franz Lorenz, systemischer Organisationsberater, Supervisor, Trainer, Mastersupervisor (DGSD)