Schreibwerkstatt I

Einleitung Ursula Geißner

Die VORLÄUFIGEN TEXTE waren einmal ein Thema eines Philosophie-Seminars in der K.Akademie in Trier. Fortbildner: Herbert Euschen, Ursula Geißner und Maria Trendelkamp. Den Titel hat Herbert Euschen geprägt: gemeint war damit, daß wir unseren philosophischen Text in unserem Leben weiterschreiben, aber immer wieder innehalten, anderes erleben und philosophische Texte lesen, sie fortschreiben und sie damit verstehen. Von Ursula Geißner stammt die Idee, dies dialogisch zu tun.

Ein Beispiel eines solchen Dialogs entstand in der diesjährigen SCHREIBWERKSTATT, veranstaltet von der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes mit Michael Manderscheid, Herbert Euschen und Ursula Geißner. In unseren Diskussionen - auch mit den Gästen - tauchte immer mal wieder das Wort und der Begriff MANIPULATION auf.

Herbert Euschen hat dazu einen Text gemacht, Ursula Geißner hat ihn fortgeschrieben, Herbert Euschen wird ihn weiterschreiben...
UG 8/93    

Dr. Ursula Geißner, Lehr-Supervisorin, Lehr-Trainerin, Organisationsberaterin (DGSD)


MANIPULATION IN SYSTEMEN - KONSEQUENZEN FÜR DIE FÜHRUNGSTÄTIGKEIT

Entwurf zur Diskussion

Angesichts technokratischer Tendenzen, angesichts der Warnungen von Hannah Arendt vor Totalitarismus und Technokratie, angesichts der Vorwürfe an die Bundesregierung, alle möglichen Entscheidungen würden getroffen, aber niemals dort, wo die zuständigen Institutionen tätig sind, sondern im informellen Kreis der Insider (Re-Informalisierungen), angesichts der EDV-Revolution, angesichts der Beobachtung, dass sich Systeme und deren Prozesse beschreiben lassen - losgelöst von (Handlungs-)Absichten der Beteiligten -, allein aufgrund der Vollzüge der Systemstrukturen, angesichts der Beschreibung von Trancezuständen in großen Institutionen (Schmidt), angesichts nötiger Erklärungen in der Erwachsenenbildung und ihrer Ethik nach Aufrechthaltung und Aufgabe der Konzeption der Aufklärung: es ist Zeit für die Diskussion der Hypothese nach der Manipulation durch Systeme, in Systemen, nach handlungsorientierten Konzepten der Manipulation (A manipuliert im Betrieb und will das auch) und nach systemischen Konzepten der Manipulation (das Mitglied eines Systems wird durch das System manipuliert, aber eben durch niemanden...).


Ein Normalzustand in Systemen ist der des Manipulierens

Manipulation ist einerseits das intrigante und intentionale, aber verdeckte Alloziieren, Anordnen, Beschaffen von Umständen, in deren Logik sich dann Vollzüge abspielen, die für andere nicht durchschaubar sind. Andererseits ist das Manipulieren in Systemen dann das "Drehen an gegebenen Rädchen der Maschine". Die Maschine führt dann die Regelbefehle aus und führt zu dem beabsichtigten oder zu unbeabsichtigten Ergebnissen, ohne dass der Manipulator wüßte, was in der "Black Box" passiert. Eine dritte Art ist die der Inszenierung von Gegenchaos in einem chaotischen System als der einzigen Möglichkeit, Chaos steuern zu können.

Der Gegenbegriff zur Manipulation ist die offene, überschaubare Handlung in einem aufgeklärten Kontext. Aufklärung war und ist der Ausgang des Menschen aus seiner (selbstverschuldeten) Unmündigkeit. Unmündig war und ist er gegenüber der ihm entgegenstehenden Herrschaft. Die neue Qualität der Aufklärung ist diejenige des Ausgangs aus der (selbstverschuldeten) Situation der Unübersichtlichkeit, der Unklarheit und der Komplexität. Beide Arten der Aufklärung erfordern die Geburt des Subjekts, des Individuums, der Persönlichkeit, das, was man Selbstwerdung genannt hat oder in seiner hedonistischeren Form Selbstentfaltung. Die Persönlichkeit ist damit aber ebenfalls funktional einbezogen: sie kann und soll nun verantwortlich handeln, so daß das Handeln kontrolliert werden kann. Ein doppeltes Resultat also: die Persönlichkeit manipuliert nicht mehr, weil sie überschaut; und ihre Tätigkeit wird über- und durchschaut, steht in der Öffentlichkeit, wird vor Manipulation gesichert. Dadurch wird as weitere Funktion Kreativität möglich.

Konzepte des Verhaltens meinen in diesem Zusammenhang die Reaktionen auf die Manipulationen des Systems an einzelnen oder an Gruppen und Organisationen. Dieses Verhalten selbst wird nun in seiner strukturellen Qualität Teil weiterer Manipulationen.

Aus der Grunddifferenz zwischen Manipulation und Aufklärung enstehen nun fünf "Ausgänge":
1. Die subversiven Kenntnisse der Persönlichkeit über das System. So kann z.B. die psychoanalytisch geschulte Persönlichkeit anhand von verdeckten Ebenen der gesprochenen Kommunikation viele Rückschlüsse auf die Befindlichkeiten der Beteiligten und deren unbewußte Bedürfnisse ziehen. ("Der kann ihm ja nicht die Stange halten." "Dieses müssen wir mal ins Auge fassen!")
2. Das Sich-Anpassen ist eine weitere Funktion, die die Grunddifferenz verkleinert und die Persönlichkeit anderen manipulatorischen Vollzügen im System wieder verfügbarer macht.
3. Umgekehrt kann die Ironie die eigene Distanz aufrechterzalten, ohne aber zum Verzicht auf das Engagement im System zu führen. Sie ist die innere Distanz des äußerlich Mitmanipulierenden. Der ironische feine englische Gentleman hat ebenfalls die Kolonialtgruppen der besten Nation der Welt nach Afrika geschickt - aber distanziert!
4. Die Interaktion in der Differenz System - Persönlichkeit wird durch die Differenz Vertrauen - Mißtrauen gesteuert. Mißtrauen sich Systembeteiligte, dann spielen sie das Spiel der Manipulation gerade dadurch weiter - und zwar kunstvoll, indem sie sich gegenseitig Manipulation vorwerfen. Vertrauen sich Systembeteiligte, dann kann eine andere Qualität der Interaktion entstehen: Vertrauen reduziert die Komplexität und macht damit Aufklärung möglich.
Trotz Mißtrauenskultur kommt es in diesem Bereich zum Verfahren der Identifikation mit dem Aggressor, mit der Institution - und damit zu einem Subsystem von Manipulation - Distanzierung - Ironie - Mißtrauen - Verzweiflung an der eigenen Systemtäterstellung - Tätigkeit im System und gleichzeitig darüber hinaus oder auf der subversiven Ebene.
5. Die am häufigsten bearbeitete Folge der Grunddifferenz ist die der Führung. Die Persönlichkeit wird aufgrund ihrer Elitenstellung mit Führungsaufgaben betraut oder übernimmt von sich aus die Führung. Damit findet der Führende ein manipulierendes und durch Manipulation gesteuertes Feld vor. Er unterliegt je nach dem Grad seiner Anpassung dieser Manipulation. Er ist Täter und Opfer zugleich und verarbeitet dies zum Teil ironisch. Er ist mit dem Sstem identifiziert und findet durch die Differenz zwischen der Systemrealität und seinem Systemideal . den Begriff und die Sachverhalte des "Wertes". In der Wertediskussion seines Systems erzeugt er Ideologie - und diese kann als ein weiteres "Rädchen" der Maschine als Manipulationswerkzeug eingesetzt werden. Der Satz "Ich als Christ..." ist als Waffe nicht zu verachten. Die ausgefeilte Form der Werte-Systematisierung ist die Ideologiekritik, die an die andere Grenze anstößt: die Grenze zwischen System und Umwelt, zwischen System und Politik. Ideologiekritik ist ein politischer Vorgang.
Die Wertediskussion ist die Ideologie der Manipulation und deren Gegenteil, d.h. in dieser dialektischen Chance, d.h. als ideologieproduzierend oder ideologiereflektierend/- kritisch.
Aufklärung ist nur eine Handlungsmacht, wenn sie sich der eigenen Dialektik und ihres Bezuges zur Manipulation bzw. Ideologie stellt. Sonst wird sie zur - die Manipulation durch das System noch übersteigende - manipulativen Strategie. Damit wird die behauptete Handlungsorientierung selbst zur Ideologie.

Führung ist die dialektische Arbeit an der Differenz Manipulation und Aufklärung in allen Systemfunktionen pragmatischer Art: Integration ins System, Output des Systems, Emotion und Selbstäußerung des Systems.

Führung in Verbänden muß auf diesen beiden Füßen stehen, kann nicht verzichten auf subversive (psychoanalytische) Kenntnisse, muß die Wertedebatte in ihrer schillernden Funktionsbreite kennen, muß sich der Tatsache der möglicherweise negativen Dialektik der eigenen Arbeit stellen, kann aus dieser Belastung ironisch zu entwischen suchen, wird aber durch die Manipulation des Systems wieder schnell eingefangen.

Von Führungspersönlichkeiten wird im allgemeinen, d.h. im normalen Manipulationszustand genau dies erwartet. Die wirkliche, d.h. wirksame Führungspersönlichkeit muß diese Manipulation der Führung, in der Führung selbst Opfer ist, durchschauen und dem Chaos ein Gegenchaos, dem Zauber einen Gegenzauber entgegenstellen können: dessen rationalste Form ist die des strategischen Managements.
29.07.93 he  


aus: "Vorläufige Texte", S. 71 ff., Denzlingen, 1994 

Herbert Euschen, Lehr-Trainer (SD), Lehr-Supervisor (SD) und Organisationsberater (SD)