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Der Ich-Aspekt und seine Dynamik
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| Betrachtet man das Modell der Situation, sieht man zunächst nur diese Vier-Felder-
Konstruktion, von der schon mehrfach behauptet wurde, dass sie unter anderem zur Strukturierung von Lehr- und Lernprozessen dienen kann. Wie kann
man nun mit diesem Modell sowohl situativ (beweglich) als auch strukturiert arbeiten? Was geschieht in Situationen? Wie lässt sich das denn
überhaupt untersuchen und beschreiben? Die weiteren Überlegungen werden sich (zunächst mit Beobachtungen, die sich auf den Ich-Aspekt der Situation
konzentrieren) aus unterschiedlichen Perspektiven konkreten Antworten annähern.
Im Interview erzählte mir Herbert Euschen, wie er Niklas Luhmann eines Tages einen Brief schrieb, in dem er ihn fragte: „Warum erforschen
Sie denn nicht die Situation und immer nur dauernde Systeme? Luhmann schrieb ihm postwendend zurück: Ja eben, weil das keine dauernden Systeme
sind! Natürlich gibt es den Einzelfall als Ereignis, aber der interessierte ihn nicht aus wissenschaftlicher Perspektive, weil er keine Dauer hat
und weil er ihn als solchen nicht in aller Gemütsruhe beobachten und beschreiben konnte.“(s. 1) Was hier aus soziologischer Forschungssicht als
Luhmanns Aussage über Situationen überliefert wird, bestätigt sich im Leben vermutlich dauernd.
Wer nun behauptet, situationsdynamisch zu arbeiten, hat von vorn herein mit diesem Widerspruch zu tun. Man benötigt eine Idee und
Erklärungen dafür, wie es denn sein kann, dass SD einerseits von der Situation als äußerst flüchtigem Phänomen ausgeht und andererseits behauptet,
es könne im direkten Zusammenhang mit einem so flüchtigen Phänomen wie der Situation eine beschreibbare Dynamik entstehen, indem man Situationen
mit dem oben dargestellten Vier-Felder-Modell zuleibe rückt.
Wer wie ich (eher selten) das Glück hatte, im Physikunterricht doch mal aufgepasst zu haben, kann sich vielleicht noch an folgendes
erinnern: Dynamik bezeichnet ein Teilgebiet der Mechanik, das sich mit der Wirkung von Kräften befasst. Nach Newton ist der Gegenstand der Dynamik
das Verhalten von Körpern unter Einwirkung einer Kraft. Körper verfügen über eine gewisse Masse, mit den physikalischen Eigenschaften der Schwere
(Masse wird von anderen Massen angezogen) und der Trägheit (Masse setzt jedem Versuch, ihren Bewegungszustand zu verändern, einen Widerstand, eine
Kraft entgegen). Dynamik bezeichnet also das Verhalten von Körpern unter Einwirkung einer Kraft.
Nun zu der Frage: Was ist dann in der Situation als Körper zu verstehen? H. Euschen vergleicht im bereits erwähnten Interview das Phänomen
der Situation mit der Nebelkammer der Physiker. Man kann es nur indirekt, annähernd beschreiben. „Unberechenbare subatomare kleinste Teilchen
lassen sich nur aus der Umwelt des Teilchens zurückberechnen, um sich dem annähern zu können, was das da sein könnte.“ Es fällt auf, dass man
spätestens seit der Quantenphysik nicht mehr allzu leichtfertig behauptet, DAS ist die Wirklichkeit. SO ist das. Ähnlich ist das Problem gelagert,
wenn man es mit Situationen zu tun hat. Erzählt mir jemand von einer gerade eben erlebten, zutiefst beeindruckenden Situation, kann er sie trotz
innigster und bewegender Erinnerungen nicht reproduzieren. Die Situation des Erzählens ist jetzt eine neue, eine andere, geprägt von vermischten
Erinnerungen und deren Auswirkungen, die auch schon wieder anders geprägt werden durch die nächste, gerade jetzt stattfindende Kommunikation des
Erzählens und des Zuhörens. Die ursprünglich berührende, bewegende Situation ist vorbei, weg, nicht mehr zu fassen. Sie hat sich aber ausgewirkt
und sie wirkt sich weiter aus… in nächsten Situationen, in nächsten Kommunikationen.
Bleiben wir nun bei dem Bild von Flüchtigkeit oder auch Nebel, erscheinen in der annähernden Beschreibung dieses nebligen Phänomens namens
Situation als stabile, beobachtbare Körper zunächst Personen und ihre Kommunikationen. Später werden in dieses annähernde Beschreiben, wie man
situationsdynamisch arbeiten kann, auch die Sachen, mit denen sich Personen beschäftigen und noch später auch Überlegungen zu den Intentionen
einfließen, aus denen heraus sich Menschen miteinander mit welchen Sachen befassen. Zunächst einmal soll es hier um die Person an sich, um die
Annäherung an das ICH in der Situation gehen. Dadurch wird die Situation an sich nicht weniger flüchtig, was auch nicht meine Absicht im Nachdenken
über Phänomene wie Situation und situative Kompetenz ist.
In diesem Punkt gab es bis heute vielfältige Missverständnisse. Mit Hilfe des Vier- Felder-Konstrukts der Situation kann ich Situationen
nicht festhalten und ihnen ihre Flüchtigkeit und Unberechenbarkeit austreiben. Dennoch finden immer wieder solche Versuche statt. Das mag damit zu
tun haben, dass Menschen unberechenbaren und unkontrollierbaren Situationen lieber aus dem Weg gehen als sie aufzusuchen. Sich in unübersichtlichem
Gelände auf die Suche nach Orientierung zu begeben, gehört nicht zu den Events, die freiwillig gebucht werden, es sei denn, es geht um Survival-
Trainings in möglichst unbewohnten und unübersichtlichen Gegenden. Solche Unternehmungen werden von manchen Leuten anscheinend eher gebucht als
sich freiwillig in unübersichtliche Gesprächssituationen zu begeben und womöglich darin zu verirren.
Bemüht man sich also um möglichste Reduzierung der Komplexität, indem man wahlweise mal auf diesen, mal auf jenen Aspekt schaut und dann sagt, „Alles zusammen
ist die Situation“, ist nicht mehr geschehen als den vielen Ordnungs-Schemata, die wir im Laufe des Lebens gespeichert haben, noch ein weiteres hinzuzufügen. Dann
haben wir das Mehr Desselben vermehrt, mehr aber auch nicht. Das wäre allerdings ein völliges Missverstehen der SD-Idee. Wenn so etwas versucht wird, wie ich es schon
öfter vor allem im kollegialen Umfeld erlebte, ist die Luft von vorn herein raus aus dem Ballon, den man eigentlich steigen lassen wollte. Das mag aber auch daran
liegen, dass man sich im Gespräch unter Gleichen nicht so gern überraschen und womöglich aufs Glatteis führen lassen möchte und doch lieber die Zügel, welche auch
immer, in der Hand behalten will. Das befördert dann eher eine vertraute konkurrierende kollegiale System-Dynamik. Folglich nichts Neues im Westen.
Im Gegensatz dazu steht das in der SD favorisierte Hier-und-Jetzt - eine andere Beschreibung für Situation - gewissermaßen quer zum
Erwartbaren, zur Systemwelt inklusive einem Alltag, der wie ein Amalgam aus Verhaltensroutinen, Einstellungen, regulierten Abläufen und
funktionierenden Strukturen zusammengebacken erscheint. Bei dieser Qualität von Alltag bleiben Strukturen in der Erinnerung, aber nicht die
Inhalte. Zum System gehört also das, was auch grauer Alltag genannt wird. Er beschert uns das Gefühl, es war schon immer so - und es wird auch
immer so bleiben. Der Vorteil solcher Alltags-Beschaffenheit könnte darin liegen, dass Menschen angesichts ständiger Veränderungen in ihren
physischen und äußeren Umwelten so eher in der Lage sind, sich als psychische Systeme mit verhältnismäßig beharrlich stabiler Identität zu
behaupten. Im Bestreben nach möglichster Minimierung unkontrollierbarer Phänomene ist es zwar verständlich, auch der Situation so zu Leibe rücken
zu wollen, aber das kann nicht nützlich sein, wenn es im Sinne von Situationsdynamik darum gehen soll, mehr Komplexität zu ermöglichen, um eben
situativ Räume zu mehr als den vertrauten Beobachtungs-, Deutungs- und Handlungs-Optionen zu öffnen.
Bleiben wir nun bei der Hypothese, „Situation steht quer zum Erwartbaren“, bestätigen wir damit den philosophischen Begriff der Existenz.
„Der Einzelfall oder das Ereignis steht immer quer zur Erwartungsstruktur.“ Überraschung, Schock, Krise - sind dann vertraute Begriffe des
Erlebens, wenn existentielle Ereignisse die Erwartung frustrieren. Auf der anderen Seite des Erlebens steht dagegen die Entscheidung für das Sich-
Quer-Stellen. „Der Eigen-Sinn-Begriff in der Situationsdynamik ist aus Überlegungen dieser Art entstanden.“ Der Eigen-Sinn aber gehört zum
Individuum, zur Person, zum ICH.
Es sind Personen, die Situationen erleben und von ihnen erzählen. Erstaunlich häufig übrigens finden sich in ihren Situations-Schilderungen
die zuvor beschriebenen Qualitäten wie Flüchtigkeit, Nebel, Schwere wieder: „Diese Situation ist einfach nicht mehr auszuhalten. Das lastet auf mir
wie ein Alpdruck.“ „Nichts bewegt sich. Diese Situation bedrückt mich schon lange. Die Belastung ist zu hoch!“ Oder: „Meine Situation lässt sich
nicht richtig greifen. Immer wenn ich konkret werden will, entzieht sich mir alles.“ Oder: „Ich kann nicht erkennen, was in unserer Situation
eigentlich los ist. Immer wenn ich genauer hinschauen will, wirft jemand Nebelkerzen!“
Wenn Menschen also anscheinend naheliegender- und sinnvollerweise von „ihrer Situation“ in sachlicher, emotionaler und bildlicher Qualität
sprechen, könnte man auch ganz pragmatisch davon ausgehen, dass sie auch die vorgeschlagene Vier-Felder- Struktur zur Annäherung an dieses so
nebulös erlebte Phänomen der Situation zur Orientierung und sinnstiftend nutzen könnten, z. B. wie eine Art Kompass. Wenn ich schon nicht erkennen
und beschreiben kann, was Situation ist, kann ich doch mit einiger Gewissheit davon ausgehen, dass Menschen (Ich - Wir) daran beteiligt sind, dass
sie sich mit etwas (einer Sache, einem Thema) beschäftigen und dass diese Beschäftigung nicht ohne Sinn, Zwecke, Ziele (Intentionen) vonstatten
geht. (s. 2)
Die Entscheidung, welchen situativen Aspekt ich hier und jetzt beobachten möchte, kann mir also einerseits als Kompass dienen. Zum Vergleich: Jetzt gehe ich
gerade nach Norden, also werde ich dort mit Sicherheit keinen Sonnenaufgang beobachten können. Jetzt beobachte ich im Ich-Aspekt, also werde ich vermutlich andere
Ideen-Brillen aufsetzen und andere Untersuchungsfragen stellen als wenn ich mich auf die Beobachtung des Wir-Aspekts und hier z. B. auf Fragen nach den sozialen
Konstruktionen konzentriere.
Andererseits - und dies mag ein erster Hinweis auf die Dynamik der Situation sein - beeinflussen diese vier Prozesslogiken einander. Während sie als
Einzelprozesse beobachtbar bleiben, gestalten und verändern sie einander auch. Solche Veränderung könnte man nun, (um in Newtons Beschreibung zu bleiben) als Dynamik
auffassen. Dynamik, so würde ich jetzt versuchsweise mit Newtons Hilfe formulieren, bezeichnet dann das Verhalten von Menschen (Körper und deren gegenseitige
Anziehung/Schwere) unter der Einwirkung einer Kraft (Trägheit oder Widerstand, den Körper oder Massen jedem Versuch entgegensetzen, ihren Bewegungszustand zu
verändern).
Laut Newton bewegen sich Körper zwar nicht ganz so gern, aber dank der gegenseitigen Anziehung scheint es doch im Bereich des Möglichen zu
liegen! Indem jedoch eine Veränderung des Bewegungszustandes (Dynamik) geschieht, geht den Menschen zuvor gewonnene Orientierung wieder verloren
und kann dann mit Hilfe des Kompasses „In welche Richtung und worauf will ich denn nun, inmitten dieses sich gerade wieder verändernden Hier-und-
Jetzt achten?“ neu angepeilt werden, mehr zunächst nicht. Das könnte aber schon ausreichen, um die ebenso wirkungsvolle Kraft der Beharrung
(Trägheit) zu überwinden und einen nächsten Schritt zu tun. Währenddessen verändert sich (gegenseitige Anziehung von Massen oder Körpern) in diesem
vierfach komplexen Prozess auch das eigene Erleben der Situation, was die Protagonisten zwar als Veränderung ihres Bewegungs-Zustandes (Dynamik)
wahrnehmen mögen, aus ihrer Beobachtung heraus aber nicht faktisch ergreifen, sondern immer nur annähernd beschreiben können.
aus: "Situationsdynamik - Guck doch mal, wie Du guckst! Wer situativ beobachtet, weiß weniger und sieht
mehr...", S. 37 ff., Saarbrücken, 2011
Christiane Schmidt, Supervisorin (SD), Trainerin (SD)
1. s. Interview mit H. Euschen "Intentionalität wirkt sich aus"
2. H. Euschen, "Alltagsbezogene Agogik", Ludwigshafen 1983, S. 83
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