Beobachtung und Intention

Wenn man nun beginnt, die Intentionalität des Handelns (bzw. der Kommunikationen) innerhalb und zwischen sozialen Systemen bzw. zwischen Individuen zu beobachten, kann man sich beobachtender Weise leicht zwischen der Beobachtung des Beobachters (seiner selbst) und der Beobachtung des Beobachteten verirren.

Und wenn man (wie allgemein üblich) davon ausgeht, dass Handlungen beobachtbar sind - und dass jegliches Handeln ein grundlegend Beabsichtigtes ist -, könnte man auch auf die Idee kommen, dass wenn die Handlung selbst beobachtbar ist, folglich auch die Absicht, mit der diese Handlung ausgeführt wurde, beobachtet werden kann. Diese Annahme stelle ich in Frage und gelange zu anderen Schlussfolgerungen, wie eine fruchtbare Beobachtung von Intentionalität gelingen könnte.

Folgt man dem konstruktivistischen Denkansatz von Fritz B. Simon, kann man bereits nicht mehr davon ausgehen, dass die eigene „Wahrheit“ bzgl. der Beobachtung der Handlung eines anderen mit dessen „Wahrheit“ seiner Handlung identisch sein könnte:

„Viel schwieriger erweist sich die ‚Objektivierung irgendwelcher Wahrheiten‘ (d. h. das Erreichen eines solchen intersubjektiven Konsens über das, was beobachtet wurde) dann, wenn Aussagen über einen Wirklichkeitsbereich gemacht werden sollen, zu dem auch der Beobachter oder seine Verhaltensweisen gehören: der Bereich des sozialen Lebens. Die säuberliche Trennung zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis bricht hier zusammen, da der Beobachter bzw. seine Verhaltensweisen innerhalb der beobachteten Einheit, innerhalb des beobachteten Systems lokalisiert sind. Der Beobachter und seine Verhaltensweisen sind stets Element solcher von außen so schön beschreib- und analysierbarer ‚Objekte‘, z. B. von Familien, Gemeinden, Unternehmen, Organisationen oder irgendwelcher anderer Interaktionssysteme. In sozialen Kontexten kann der Beobachter sich also nicht als ‚außenstehend‘ idealisieren und seine Erkenntnis als objektiv ansehen, da er sich und seinen eigenen Einfluss, der womöglich das, was beobachtet wird, erzeugt oder aufrechterhält, nicht aus seiner Beschreibung der Wirklichkeit wegdenken kann. Er findet stets (zumindest auch, manchmal sogar nur) die selbst versteckten Ostereier.“ (s. 1)

„Der Wirklichkeitsbereich, um den es sich hier handelt, ist sehr viel ‚weicher‘, da alles Wissen und jede Aussage über ihn selbstbezügliche Wirkung zeitigen: sie beeinflussen diese Wirklichkeit. In dem Moment, wo auch nur ein Mitglied eines Interaktionssystems seine Sicht des Systems verändert, besteht die Chance (oder Gefahr), dass das ganze System sich verändert.“ (s. 2)

Wenn man also bereits bzgl. der angenommenen Fähigkeit des Menschen zur objektiven Beobachtung sozialer Vorgänge laut Fritz Simon von nicht haltbaren Voraussetzungen ausgeht, kann man folglich erst recht nicht davon ausgehen, dass die Beobachtung der einer beobachteten Handlung zugrunde liegenden Absichten möglich sein könnte.

So selten beobachtender Weise in Betracht gezogen wird, dass man gar nicht anders kann, als auf den jeweiligen subjektiven Blickwinkel samt bewährter Deutungsmuster (das eigene operational geschlossene System) zurückzugreifen, so häufig erlebt man Menschen in Aktion, die behaupten, genau zu wissen, was der andere beabsichtigt hat! Anhand seiner Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen sagt ein solcher Beobachter zwar mehr über sich selbst als über den beobachteten Anderen aus, würden aber solche (im Grunde immer selbstbezüglichen) Deutungen unterlassen, käme in vielen Fällen womöglich gar keine Kommunikation im intentionalen Bereich zustande.

So wird immerhin ein deutliches Beziehungsangebot gemacht: Du interessierst mich so sehr, dass ich mir Gedanken über die Beweggründe Deines Handelns mache.

Kommt es zu keinerlei Kommunikation über mögliche Intentionen des Handelns, bleiben sowohl Handlungen als auch Intentionen anderer Menschen unbekannte und geheimnisvolle Phänomene. Wird nichts behauptet, nichts vermutet und nichts gefragt, geht der Augenblick mit allen seinen möglichen Möglichkeiten vorüber.

Währenddessen geht jedoch das gegenseitige Beobachten des Handelns handelnder Menschen permanent weiter. Etwas ist gerade geschehen - und es wird weiterhin und immer wieder neu in vielfältiger Gleichzeitigkeit etwas geschehen, was soziale Akteure im Rahmen ihrer jeweiligen Kontexte immer wieder wie gewohnt oder neu einzuordnen versuchen.

Hier beschäftigt mich die Frage, wenn das doch mit dem Anspruch auf Wahrheit, Objektivität bzw. der Wirklichkeit der Beobachtung so gar nicht funktionieren kann wie Fritz Simon sagt: Wozu beobachten wir Menschen dann fortwährend und v. a.: Wohin führen unsere Deutungen bzgl. der Intentionen beobachteter Personen? Und wem und wozu nutzt das dann?

Die Frage nach dem Wozu ist die Frage situationsdynamisch arbeitender Menschen, die sich als pragmatisch neugierige Frage nach der Intentionalität an sich und als Schlüssel zur Kommunikation in intentionalen Zusammenhängen (Ziel, Zweck, Nutzen, Absicht) immer wieder als hilfreich erweist.

Also fragen wir doch mal: Wozu sollten Menschen fortgesetzt solche Anstrengungen unternehmen, wenn ihre letztlich selbstreferentiellen Beobachtungen doch nur wieder auf selbstreferentielle Weise ihr operational geschlossenes System bestätigen? Irgendwie funktioniert das ja doch immer wieder als soziale Aktivität, im Kontakt mit anderen, die sich veranlasst sehen, darauf zu reagieren.

Meine Fragestellung operiert allerdings bereits mit einer Hypothese, die in alltäglichen Zusammenhängen anscheinend von nicht so großer Bedeutung ist.

Wenn beispielsweise behauptet wird: „Ich weiß genau, was Du damit sagen willst!“ kann man neben der Unterstellung ein gewisses Erkenntnis-Interesse und auch ein Bestreben erkennen, etwas offensichtlich Relevantes über eine andere Person herauszufinden und auszudrücken. Also scheinen die Intentionen anderer durchaus interessant zu sein! Es könnte auch sein, dass soziale Akteure solche Anstrengungen für erforderlich und nützlich halten, um Kommunikation herzustellen oder um soziale Kontexte, die stabil bleiben sollen, nicht zu gefährden. Verbirgt sich in dieser Bemühung um das Erkennen der Intentionen des anderen womöglich auch das Bedürfnis, eine durch Erfahrung bestätigte, aber doch nie ganz verlässliche Berechenbarkeit des anderen zu prüfen?

Solche Annahmen könnten einen sogar auf die Idee einer kollektiven Intention bringen, die den Irrtum bezüglich der „Unmöglichkeit objektiv richtiger Aussagen des Beobachters über das Beobachtete“ gar nicht aufdecken will oder kann und/oder sogar beabsichtigt pragmatisch überbrückt. So könnte man Situationen und sich selbst in Situationen stabil erleben: Es ist klar, worum es geht, wie und wozu hier gehandelt wird. Es gibt folglich nichts zu fragen.

Das könnte beispielsweise den gesamten Bereich sozialer Vereinbarungen, ungeschriebener Übereinkünfte (Grammatik) allgemeinen sozialen Verhaltens betreffen, solange es ohne weitere Überprüfung als genehmigt, als übereinstimmend bewertet und vom Beobachter als akzeptabel, zumindest nicht als bedrohlich aufgefasst werden kann. Dabei denke ich an die vielfältigen, rasch wechselnden Kontakte auf dem Weg durch eine belebte Geschäftsstraße oder den ritualisierten sozialen Kontakt in Verkaufsgesprächen. Kaum jemand wird einen zweiten Blick oder Gedanken auf solche Situationen „verschwenden“, solange keine allzu auffällige Störung gegenseitiger Erwartungen an soziales Verhalten zu beobachten ist.

Der Vorteil: Das funktioniert. Der Nachteil: Solche Begegnungen führen zu einer völligen Verflachung sozialen Erlebens, obwohl gerade solche öffentlich stattfindenden „Zufalls“-Begegnungen vieler Menschen nach Einschätzung soziologischer Forschung mit potentiell maximaler Komplexität ausgestattet sind. Es scheint so, als schalteten Menschen, sobald sie Situationen als Routine einschätzen, umgehend den Autopiloten ein. Dann erleben sie jedoch keine lebendige Komplexität, sondern bewegen sich in ihren Routine-Rastern und Routine-Strukturen. Man ist dann gewissermaßen gar nicht mehr ganz da.

Dagegen argumentiert Simon: „Noch komplexer wird die Situation, wenn zwei oder mehr Beobachter sich gegenseitig beobachten. Es ist der ‚weichste‘ Bereich der Realität, der sich nur ‚erhärten‘ kann, wenn sie sich in ihren Weltbildern und Verhaltensmustern gegenseitig stabilisieren.“ (s. 3)

Im gegenseitigen Stabilisieren scheinen wir Menschen als Routine-Fans in einigen Lebensbereichen bereits Meisterschaft erlangt zu haben. Dieses routinierte Erhärten des von F. Simon geschilderten weichsten Bereichs der Realität dient uns möglicherweise gerade dazu, eine andernfalls überwältigende Komplexität so weit wie möglich zu reduzieren, um handlungsfähig zu bleiben, um nicht ständig mit den Welten anderer Menschen zu kollidieren.

Was kann man aber tun, wenn man nicht gleich nach erster Beobachtung und Interpretation (das Phänomen des ersten Eindrucks passt auch hierher) wie üblich reagieren will? Meine Idee wäre hier, eine gewissermaßen querstellende Verzögerungsschleife einzubauen. Man könnte sie die „Warte mal!“-Übung nennen. Sie kann auch dabei unterstützen, das eigene Beobachten der Handlungen anderer zu beobachten und zu reflektieren.

Das wäre wiederum die Übung der Beobachtung zweiter Ordnung, welche allerdings die Absicht voraussetzt, die alltäglich reduzierte Komplexität sozialer Kontakte augenblicklich maximal zu erweitern. Das kann gelingen, indem man zunächst beschreibt, was man wahrgenommen hat. Eventuell finden sich sogar Übereinstimmungen zwischen meiner Beschreibung der Handlung des Protagonisten und dessen Beschreibung seiner Handlung. Es könnten auch die Interpretationen kommuniziert werden, die aus den Beobachtungen beider resultieren. Solche Botschaften könnten als Beziehungs-Angebot im Sinne der Selbstoffenbarung verstanden werden.

Der Beschreibung eigener Beobachtung könnte man auch anfügen, dass eine gewisse Zielstrebigkeit, eine auf etwas gerichtete Aufmerksamkeit im Handeln des Beobachteten wahrzunehmen ist, eine spürbare Dringlichkeit oder Intentionalität, die neugierig macht und genauer fragen lässt: „Wozu macht er/sie das?“ Oder: Worauf will er/sie hinaus?“

Und es gibt in diesem Bereich noch die gesteigerte Variante (auch aus systemtherapeutischer Arbeit bekannt), eigene Vermutungen über Hintergründe, Beweggründe und Intentionen des Handelns der beobachteten Person als Hypothese anzubieten. Das wäre ein direkteres, sinnvollerweise zirkuläres Vorgehen, das mehrere Beobachtende mit einbezieht. Solche Wozu-Hypothesen („Könnte es denn sein, dass...?“) sollten allerdings ein beobachtetes System zu Aussagen über sich selbst einladen und nicht dazu dienen, Diagnosen in etwas eleganterer Form unter die Menschen zu bringen.

Die Frage nach dem Wozu kann also erstens zum Spekulieren über Ideen führen, die als hypothetisches Angebot möglicherweise nützlich werden könnten. (s. 4) Zweitens kann die Frage nach dem Wozu dazu führen, etwas im Grunde Nicht- Mögliches zu umgehen, wie auch das Wasser einen in der Mitte des Bachbetts liegenden großen Stein umfließt, ohne sich von diesem aufhalten zu lassen. Wozu-Fragen begeben sich jedenfalls ohne Umweg auf die kommunikative Achse des Erkundens - und nicht auf die Achse des Plädierens. Dazu noch einige Beispiele, bevor dieses Kapitel mit der für mich wichtigsten dritten Option, mit Wozu-Fragen zu arbeiten, endet.

Aus eskalierten Konfliktsituationen kennt sicher jeder Absichten unterstellende Behauptungen durch beteiligte Beobachtende: „Das hast Du absichtlich gemacht!“ „Du wolltest... mich verletzen, mir eins auswischen, Dich um jeden Preis durchsetzen!“ Eine ebenso stereotype Antwort darauf lautet beispielsweise: „Nein, das stimmt doch gar nicht!“ Wer lang andauernde und verwickelte Konflikte zu schätzen weiß, bleibt zwecks erfolgreicher Fortsetzung am besten auf dieser Ebene. Sehr viel seltener höre ich die Antwort „Woher willst Du das denn wissen?!“ Das wäre meines Erachtens eine passende Entgegnung, welche die Absurdität der Unterstellung von Absichten augenblicklich aufklärt.

Menschen verfügen jedoch neben ihrer Bereitschaft, Absichten zu unterstellen und sich unterstellen zu lassen, über durchaus angemessene Mittel und Wege, um sich erfolgreich dagegen zu wehren, auch dagegen, ihren Gewissheiten über die vermeintlichen Absichten anderer zu folgen. Man möchte z. B. nicht so gern als vorurteilsbehaftet gelten. Solche tief in einer Art sozialen Grammatik verankerten Werte (Vorurteile = ganz schlecht!) sind eine durchaus wirkungsvolle Bremse allgemeiner Unterstellungs-Gelüste.

Und das ist auch gut so, sonst wären wir Menschen, die sich nur in Kontexten verhalten können, vermutlich unausgesetzt in Bewer- tungskonflikte verstrickt und die meiste Zeit handlungsunfähig. Man könnte sich überhaupt nicht mehr in Ruhe unterhalten und schon gar nicht in Ruhe arbeiten. Das scheint, wenn ich meinen Beobachtungen folge (indem ich sie natürlich auch interpretiere und als Möglichkeiten zur Verfügung stelle), glücklicherweise nicht immer und überall der Fall zu sein. Manche interpretative Unterstellung mag sogar als Kompliment ankommen. Manche nimmt man unter FreundInnen auch hin, weil man nicht als kleinlich gelten mag. Und bei ganz „dicken Hunden“ könnte es dann doch zu rumoren beginnen…

Folgt man nun weiterhin der Eingangs-Hypothese „es ist keine objektiv richtige Beobachtung der Intentionen anderer möglich“, kann man auch eine Intentionalität für sich selbst sprechen lassen, die vom Beobachter schlicht nicht gedeutet wird. Wie wäre das dann? Aus meiner Erfahrung heraus kann ich bestätigen, dass die Sicherheit eigener Interpretationen dann recht zügig ins Wanken gerät und dass sich Unsicherheit angesichts wachsen-der Komplexität (zunächst in meiner Welt-Konstruktion) auszubreiten beginnt. Das wäre nun die dritte und m. E. anspruchsvollste Möglichkeit, mit der Frage nach dem Wozu zu arbeiten.

Man mag sich plötzlich wie ein Kind wieder darauf angewiesen sehen, zu staunen, nicht zu verstehen und - ja, fragen zu müssen: Was machst Du da? Warum tust Du das? Was ist das? Wozu ist das gut? Und dann? Wer sich auf diese vollständige Unwissenheit einlässt, wird m. E. die Differenz zwischen vermeintlichem Wissen und neugierigem Schauen zu spüren bekommen, nicht nur im Beobachten von Kommunikationen, sondern ebenso im aufmerksam beobachtenden Erleben des eigenen Beobachtens.

Maturana und Varela sagen dazu: „Erkennen hat es nicht mit Objekten zu tun, denn Erkennen ist effektives Handeln; und indem wir erkennen, wie wir erkennen, bringen wir uns selbst hervor. Die Erkenntnis der Erkenntnis verpflichtet. Sie verpflichtet uns zu einer Haltung ständiger Wachsamkeit gegenüber der Versuchung der Gewissheit. Sie verpflichtet uns dazu, einzusehen, dass unsere Gewissheiten keine Beweise der Wahrheit sind, dass die Welt, die jedermann sieht, nicht die Welt ist, sondern eine Welt, die wir mit anderen hervorbringen.“ (s. 5)  


aus: "Situationsdynamik - Guck doch mal, wie Du guckst! Wer situativ beobachtet, weiß weniger und sieht mehr...", S. 202 ff., Saarbrücken, 2011  

Christiane Schmidt, Supervisorin (SD), Trainerin (SD)


1. Fritz B. Simon, „Innen- und Außenperspektive, Wie man systemisches Denken im Alltag nutzen kann“ in „Das Auge des Betrachters“, Heidelberg 2002, S. 141
2. ebenda, S. 142
3. ebenda, S. 142 f.
4. s.o.: Beispiel in diesem Text: „Also fragen wir doch mal“
5. H. Maturana, F. J. Varela, „Der Baum der Erkenntnis“, München, 1984, S. 262 f.