Der Wir-Aspekt und seine Dynamik

Der "Ich" Aspekt der SituationDer "Sach" Aspekt der SituationDer "intentionale" Aspekt der SituationDer "Wir" Aspekt der SituationSituation  

Wenn man die Situation mit Konzentration auf den Wir-Aspekt betrachtet, beobachtet man das Miteinander von Menschen hier und jetzt bzw. die sozialen Konstruktionen, die sie in Situationen erzeugen.

Es werden in den Texten zum Wir-Aspekt unterschiedliche Theorien und einige inhaltliche Fragen aus verschiedenen Blickwinkeln zur Sprache kommen: Phänomene wie Verantwortung, Emanzipation, Normen, Werte, Tradition, Organisation, Autonomie und Interdependenz drängen sich in der Beobachtung des sozialen Fokus der Situation regelrecht auf, v. a. wenn man die zeitgeschichtliche und bildungspolitische Entstehungsgeschichte der SD-Idee, ihre Intentionen und bevorzugten Arbeitsformen berücksichtigt.

Karl Schattenhofer wurde als Forscher und Autor von „Selbstorganisation und Gruppe“ schon mehrfach erwähnt. Er wiederum stützt sich in seiner Beobachtung und Begleitung selbst organisierender Gruppen auf sozialpsychologische, psychologische, soziologische und systemtheoretische Grundlagen, womit hier nur andeutungsweise umrissen sei, wie vielfältig und facettenreich theoretische Zugänge zum WIR-Aspekt der Situation sein können.

Welches Gewicht Schattenhofer dem Sozialen zumisst, beschreibt er, indem er ebenfalls auf die Alternativ-Bewegung der 1970er- und 1980er- Jahre zurückgreift: „Die Gruppen und sozialen Netze, die in den letzten 20 Jahren als Alternativen zu bestehenden Formen des Zusammenlebens, - arbeitens und Zusammenhaltens entstanden sind, stehen in zweifacher Hinsicht mit gesellschaftlichen Individualisierungs- und Differenzierungsprozessen in Verbindung. Man kann sie als Ergebnis des Freisetzungsprozesses verstehen, der für bestimmte Gruppen neue Gestaltungsspielräume eröffnet. Man kann sie auch als ‚Gegen-Welt‘ oder als alternativen Entwurf zur bestehenden sozialen Normalität verstehen, die zum Motor für Veränderungen und Entwicklungen der Normalität wird. Gruppen, die sich nach neuen Gesichtspunkten formieren als den bisher legitimierten, spielen bei gesellschaftlichen Veränderungen eine wesentliche Rolle… Die eigene Subjektivität soll nicht mehr und mehr an technisch rationale Prozesse angepasst werden. An die Stelle der fremd bestimmten und funktionalisierten Interaktionsformen, die vor allem im beruflichen, öffentlichen Alltag dominierten und in denen die Personen der Beteiligten mit ihren jeweiligen individuellen Wünschen und Bedürfnissen weitgehend ausgeklammert bleiben, sollten selbstbestimmte und persönliche Begegnungs- und Beziehungsformen treten.“ (s. 1)

Hier deuten sich bereits die inneren und äußeren Systeme an, die Schattenhofer von Homans (1960) übernommen und als „Psycho-“ und „Sozio-Schnitt“-Stellen bezeichnet hat, an denen die Trennung von „äußeren“ und „inneren“ Umwelten von Gruppen verläuft.

„Entsprechend wird in der Gruppen-Soziologie zwischen der inneren Umwelt einer Gruppe, den Mitgliedern mit ihren Motivationen, Gefühlen, Verhaltensweisen, die sie nie vollständig in eine Gruppe einbringen (können), und einer äußeren Umwelt der Gruppe, im Sinne der gemeinsamen relevanten Umgebung, differenziert. Wer auf die Grenzziehung zwischen der Gruppe und ihrer inneren Umwelt sieht, den beschäftigen Fragen wie: Wie sind die einzelnen mit der Gruppe verbunden, wie wird ihr Verhalten beeinflusst und wie sind sie an der Norm-, Rollen- und Strukturentwicklung der Gruppe beteiligt? Welche Orientierung und Sicherheit finden die einzelnen in der Gruppe, aber auch: Wie werden sie eingeschränkt, welche Teile ihrer Identität können sie nicht einbringen? Das ist die sozialpsychologische Sicht der Gruppe. Die klassischen Untersuchungen zum sozialen Vergleich und zur sozialen Kontrolle gehören hierher, ebenso die Theorien zur sozialen Identität. Für diese ‚Schnittstelle‘ interessieren sich auch die mehr psychoanalytisch ausgerichteten Theorien über das Geschehen in selbstanalytischen und therapeutischen Gruppen. Dieser Gruppentyp zeichnet sich dadurch aus, dass er vor allem von der psychischen Dynamik der Teilnehmer geprägt wird. Für ihn ist damit das innere System charakteristisch (vgl. Willke 1976) (…) An der eher soziologischen Schnittstelle zur äußeren Umwelt beschäftigt man sich mit Themen wie: Wie wirken sich äußere Bedingungen, z. B. Handlungsdruck, Mitgliedschafts-Alternativen und Ressourcen, auf die Gruppe aus?“ (s. 2)

Die Gruppe wird so zur unterscheidbaren und gewichtigen Einheit in größeren sozialen Kontexten, sie wirkt als Subsystem und Subkultur. Darüber hinaus wirkt die Interdependenz (s. 3) zwischen Umwelt und Gruppe (Sozio-Schnittstelle) als Gegengewicht zur Interdependenz der Gruppenmitglieder und diese wiederum als Gegengewichte zu den Interdependenzen an den jeweiligen Psycho-Schnittstellen aller an der Gruppe beteiligten Personen.

Beobachtungen und Fragen zur Sozio-Schnittstelle „Wie entstehen von der Umwelt abweichende Normen in der Gruppe?“ „Wie wirken sie sich auf deren Struktur, Rollengefüge etc. aus?“ werden im gruppensoziologischen Kontext verortet und aus diesem stammt auch F. Neidhardts Forderung an die soziologische Forschung: „Wegen der Interdependenz zur Umwelt muss die Soziologie ‚Gruppe‘ aber auch als abhängige Variable behandeln.“ (s. 4)

Hauptaugenmerk der Perspektive der Selbstorganisation liegt nach Schattenhofer „bei der Frage des Unabhängig-Werdens des fokussierten Systems von seiner Umwelt:

Welche Normen, Grenzziehungen, Strukturen entstehen, die Außeneinflüsse mindern und Selbststeuerungsmöglichkeiten eröffnen? Dabei ist die Konsequenz des Abschlusses nach außen oder der ‚Entpersönlichung‘ mit eingeschlossen.“ (s. 5)

Wenn es also um soziale Konstruktionen geht, hat man es immer mit Mikro-, Mezzo- und Makrostrukturen zu tun. Alle drei sind aus situationsdynamisch beobachtender und theoretisch begründender Sicht relevant. H. Euschen nennt darüber hinaus „den Einzelfall, das einzelne Ereignis, das Hauptargument der Situationsdynamik und nicht das Wegabstrahieren des einzelnen Ereignisses. Das hat wissenschaftstheoretische Konsequenzen. Man muss mehr auf die Induktion achten als auf die Deduktion, mehr auf die Synchronizität als auf die Kausalität und die Finalität, mehr auf die Pluralität der Wissenschaften als auf die Uniformität. Das wären dann die Auswirkungen.“ (s. 6)

Das Phänomen Gruppe lässt sich nach H. Euschen als zentrales Anliegen gruppendynamischen Arbeitens in der Situationsdynamik beschreiben. (s. 7)
Damit ist nicht bloß die Tatsache des Ablaufens von Gruppenprozessen gemeint. „Auch kann man dieses Phänomen nicht allein experimentell- objektiv definieren, wie dies die sozialpsychologische Klein-Gruppenforschung versucht, sondern von Anfang an geht es - vergleichbar mit der Situations- Definition und ihrer Abgrenzung zur Lage - darum, die subjektive Wahrnehmung der Gruppe in deren Definitionen mit einzubeziehen und nachzuweisen, dass die Gruppe an und für sich bereits konstituiert wird nach der subjektiven Reflexionsarbeit. Es geht also nicht um eine ‚Gruppe an sich‘, sondern immer um die situativ vorhandene Gruppe, in der Leiter und Edukandus Mitglieder und damit Betroffene sind.“ (s. 8)

„Der Alltag strukturiert das Erleben, Wahrnehmen und Verhalten, Handeln und Interagieren sowie die Fähigkeit des Feedbacks der Gruppenmitglieder. Diese Struktur hat die Tendenz, relativ schnell zu „gefrieren“ und eine Prozessgesetzlichkeit“ anzunehmen, die mit den Bedürfnissen der Anwesenden nicht in Einklang stehen muss. Die agogisch gruppendynamische Situation bietet die Gelegenheit, dies zu thematisieren und die Frage zu stellen, wie das situative Leben in Gruppen so gestaltet werden kann, dass es für alle Anwesenden angenehm und für die zu erreichenden Ziele optimal strukturiert und prozessoffen ist.“ (s. 9)

Im Ich-Aspekt wurde festgestellt, dass und wie die Leiblichkeit des Daseins quer zur Struktur des Erwartbaren, quer zu den Strukturen des Funktionierens, quer zur System-Welt, steht.

Dementsprechend könnte man sagen, dass im Wir-Aspekt das subjektive Erleben und Beobachten der sozialen AkteurInnen quer zu deduktiv objektivierbaren Erkenntnissen sozialwissenschaftlicher Forschung und ebenso quer zu alltäglich vertrauten Deutungsmustern steht, mit denen gerüstet Menschen in soziale Kontexte eintreten, häufig ohne um das Vorhandensein solcher wirkungsvollen fest-„gefrorenen“ Rüstungen oder Routinen zu wissen.

Geht es also um situative Kompetenz im Wir-Aspekt der Situation, bezieht sich diese vor allem auf das Wie-Wir-Sein in einer Gruppe. Wie erleben, wie beobachten, wie deuten, wie erklären wir uns dieses Wir-Sein hier und jetzt? Wie wollen wir es gestalten, dieses permanent selbst erzeugte Wir-Konstrukt? „Deutungsmuster sind nicht die Realität.“ (s. 10)

Deutungsmuster, v. a. auch einander widersprechende theoretische Begründungen von Deutungsmustern, können sich dabei jederzeit als Schlüssel im Prozess situativer Aufklärung erweisen, dem es um ein Verstehen (vom Entstehen bis hin zur Beobachtung der Konsequenzen) der hier und jetzt so geschaffenen sozialen Konstruktion geht.

„Dieser Prozess liegt nach meinem Ansatz im Definitions- und Handlungsbereich der Beteiligten, kann agogisch gestützt werden…und beschäftigt sich … mit einer intersubjektiven Ebene… Die Definitionsmacht der Beteiligten soll nicht entfallen, sondern gestärkt werden.“ (s. 11)


aus: "Situationsdynamik - Guck doch mal, wie Du guckst! Wer situativ beobachtet, weiß weniger und sieht mehr...", S. 90 ff., Saarbrücken, 2011  

Christiane Schmidt, Supervisorin (SD), Trainerin (SD)



1. Karl Schattenhofer, „Selbstorganisation und Gruppe, Entwicklungs- und Steuerungs-Prozesse in Gruppen“, Opladen, 1992, S. 14 f.
2. Karl Schattenhofer, ebenda, S. 44
3. Interdependenz = gegenseitige Abhängigkeit
4. Karl Schattenhofer, ebenda, S. 45
5. H. Euschen, „Alltagsbezogene Agogik, Grundlagen einer situativen Didaktik“, Ludwigshafen, 1983, S. 45
6. www.Situationsdynamik.de, Interview H. Euschen, „Intentionalität wirkt sich aus“
7. H. Euschen, „Alltagsbezogene Agogik, Grundlagen einer situativen Didaktik“, Ludwigshafen, 1983, S. 95
8. H. Euschen, ebenda, S. 96
9. H. Euschen, ebenda, S. 96
10. H. Euschen, ebenda, S. 27
11. H. Euschen, ebenda, S. 30