Der Sach-Aspekt und seine Dynamik

Der "Ich" Aspekt der SituationDer "Sach" Aspekt der SituationDer "intentionale" Aspekt der SituationDer "Wir" Aspekt der SituationSituation  
In der angewandten SD geht die Arbeit an und mit der SACHE wesentlich über das rein themenbezogene Arbeiten oder eine Belehrung zu Sachfragen oder Sachthemen durch Fach-Experten hinaus.

Vor dem Hintergrund von SD geht man davon aus, dass alle an der Situation beteiligten Personen mit ihrem eigenen Sachverständnis auf die Kommunikation zur verabredeten Sache Einfluss nehmen. 


Was ist Sache im Sachaspekt der Situationsdynamik?

Auf dieser Voraussetzung basieren Beobachtung und Interventionen im Bereich der Sachdynamik, wobei zunächst zu klären ist, was in der SD als Sache zu verstehen ist.

Was für die Menschen Sache ist, resultiert aus ihrer Lebenspraxis und Lebensweisheit, auch aus ihren wissentlich und unwissentlich theoriegeleiteten Sachverständnissen. Menschen werden also als generell sachkompetent verstanden. Ihre Sachinteressen und Sach- Kompetenzen werden fortlaufend vielfältig genährt durch ihre Lebenserfahrung, berufliches und anderes Können und Wissen.

Es ist also in der angewandten SD schlicht nicht möglich, eine rein sachbezogene Kommunikation unter Ausschluss der an der Situation beteiligten Personen und deren Intentionen zu gestalten. Auch wenn diese Aspekte längere Zeit nicht direkt im Gespräch sind oder nicht ins Gespräch kommen sollen, wirken sie sich situativ aus.

Ebenso werden sich Auswirkungen auf die Qualität der Kommunikation zur Sache zeigen, wenn die Wirklichkeits-Konstruktionen der an der Kommunikation beteiligten Personen als nicht zur Sache gehörig betrachtet werden.

Insofern steht in der SD eine favorisierte subjektive Sachauffassung quer zur Erwartungsstruktur, somit wiederum quer zur Systemwelt, die sich zuweilen sehr deutlich gegen solches Querstellen zur Wehr setzt: Werden Menschen persönlich oder gar emotional in ihren Äußerungen zur Sache, hört man oft: „Nun bleiben Sie mal sachlich!“ Schweifen sie ab, weil sie diesen oder jenen Nebenstrang auch relevant finden, wird gern folgendermaßen korrigiert: „Nun kommen Sie mal auf den Punkt! Kommen Sie zur Sache!“ Oder: „Bleiben Sie bei der Sache!“

Es gibt also anscheinend immer und überall, wo Kommunikation stattfindet, institutionalisierte Arbeitsstrukturen, vorausgesetzte Vorgehensweisen, ein Plenum oder einzelne Menschen, die darauf achten, wie Sache aufzufassen und zu vermitteln ist.

Wird beispielsweise nach einem Experten-Vortrag vor größerem Publikum die übliche Frage- und Diskussionsrunde eröffnet, kann es passieren, dass einzelne Teilnehmende nachdrücklich ihre je eigene Sachauffassung und Sachlogik ins Gespräch bringen. Wenn das geschieht, bestehen sie gewissermaßen auf der Würdigung ihrer Sicht auf das, was für sie Sache ist, wodurch auch andere Teilnehmende sich unter Umständen angeregt sehen, ihrerseits mit ihrer Lebens-Sach-Erfahrung zum Thema zu reagieren anstatt die vorgetragenen Inhalte des Experten zu diskutieren.

So kann innerhalb kürzester Zeit eine deutlich spürbare bis heftige sachdynamische Welle im Publikum aufbranden. Solche Wellen werden von Vortragenden (im Sinne der eigenen Auslegung der zur Debatte stehenden Sache) erwartungsgemäß möglichst freundlich gebremst und beruhigt. Schließlich soll die vorgetragene Expertensicht zur Sache im Mittelpunkt des Publikums gehalten und nicht durch zu viele widersprechende Sichtweisen beeinträchtigt oder verwirrt werden.

Experten-Vorträge sind natürlich ein unverzichtbares Instrument, um zu einem vorgegebenen Thema möglichst viele Informationen in kürzester Zeit an möglichst viele interessierte Menschen zu vermitteln. Vorträge als solche sollen hier keinesfalls diskreditiert werden. Dieses Beispiel soll hier dazu dienen, eine manchmal ganz plötzlich und unerwartet aufbrausende sachdynamische Kraft, die sich auch in einer größeren ZuhörerInnenmenge entwickeln kann, anschaulich zu machen.

Ein Vortrag mit anschließender Fragerunde bietet traditionell nicht den Raum, um sich sachdynamisch mit den Positionen der Zuhörenden auseinander zu setzen. Dazu eignen sich beispielsweise Lehr- und Lern-Formen, die situationsdynamisch arbeiten. Sie sind auch dazu da, möglicherweise ganz unterschiedliche Sachauffassungen und Sachlogiken der Teilnehmenden zur Sprache kommen zu lassen.

Dazu wird ausdrücklich Raum und Zeit zur Verfügung gestellt, so dass alle Beteiligten ihre Sach-Auffassungen äußern und miteinander teilen können. Das sind die Voraussetzungen dafür, dass eine Gruppe interessierter Menschen die Entfaltung ihrer aktuellen Sach-Dynamik erleben kann.

Dabei erfahren die Teilnehmenden hier und jetzt am eigenen Leib, dass es nicht nur die lehrende Leitung als ExpertIn der Veranstaltung gibt. Die lebenserfahrenen und bewährten Expertisen aller Beteiligten sind dann im gemeinsamen sachdynamisch konzentrierten Lernprozess zu würdigen.

Mit ihrem Ansatz des theoriegeleiteten und praktikablen „Mehr“ im Sinne prozessorientierten Arbeitens in und mit Gruppen reagierten die Begründer der Situationsdynamik bereits in den frühen 1980er-Jahren auf eine These der Bildungsdebatte der End-1970er-Jahre, dass wissenschaftliches bzw. theoretisches Arbeiten mit der Lebenspraxis der Menschen, die daran nicht unmittelbar beteiligt sind, unvereinbar sei. Sie stimmten dieser These nicht nur zu, sondern sie wollten diese Situation verändern, indem sie die Menschen am wissenschaftlich theoretischen Arbeiten inklusive ihrer Lebenspraxis beteiligten. (s. 1)

An den Diagnosen damaliger Bildungsexperten hat sich inzwischen trotz vielversprechender theoretischer Konzepte der Erwachsenenbildung nicht so viel geändert. Deren Konzepte gelangten entweder nur selten von der theoretischen auf eine praktizierte Ebene; oder es wurden zwar hohe Anforderungen an prozessorientierte Bildungs-Prozesse oberflächlich methodisch handhabbar gemacht, ohne jedoch tieferliegende didaktische Zusammenhänge und Erfordernisse genügend zu berücksichtigen.

Das gipfelte seit Anfang der 1980er-Jahre in pädagogischen Empfehlungen, von denen wir heute noch zehren können, wie z. B. „Teilnehmerorientierung“, was eine „Klärung der Teilnehmer- Erwartungen“ beinhaltet, denn: „man muss die Teilnehmenden da abholen, wo sie sind“. Aber wie macht man so etwas, wenn man als Leitung der Veranstaltung nach der obligaten Vorstellungsrunde (mit integrierter Frage nach den Erwartungen und Interessen der Teilnehmenden) im reibungslosen Ablauf des durchgestylten Konzepts nicht mehr gestört werden möchte?

Dann sollte man meines Erachtens lieber auf solche Fragen verzichten. Denn wenn einerseits dazu eingeladen wird, sich zu eigenen Sach- Auffassungen und Erwartungen zu äußern, andererseits dann aber kein Raum zur Bearbeitung geboten werden soll oder kann, sind Konflikte bzw. zumindest atmosphärische Störungen im Verlauf der Veranstaltung sehr wahrscheinlich.

Die Teilnehmenden werden dann mit einem widersprüchlichen Auftrag konfrontiert: Sie werden aufgefordert, sich auf ein Pferd zu setzen, auf dem sie dann nicht reiten dürfen. Situationsdynamische Überlegungen ging deshalb zunächst auf die Frage ein, wie es dazu kommen konnte, dass den oben erwähnten pädagogischen und agogischen Empfehlungen der Bildungs-Theorie, die mittels Prozessorientierung die beklagte Kluft zwischen Theorie und Lebenspraxis schließen wollten, so häufig nur pro forma gefolgt wurde und wird.

Die ersten SD-TrainerInnen und BeraterInnen widmeten sich forschend zunächst vor allem Lehrenden in Schulen und der Erwachsenenbildung und stellten fest, dass ihnen didaktische Werkzeuge fehlten, um solche von Bildungs- Theoretikern geforderte Prozessorientierung gewährleisten und angemessen begleiten zu können. In der Folge stellte sich heraus, dass prozessorientiertes Arbeiten in und mit Gruppen gelernt werden sollte (und kann!). Dazu geeignete Lehr-Lern-Architekturen waren damals und sind heute immer noch inhaltlich gering strukturierte Arbeitsformen. Sie ermöglichen allen beteiligten Lehrenden und Lernenden ein Erleben und Handhaben unterschiedlicher Sachlogiken und daraus resultierender Sachdynamik in einem geschützten Erfahrungs- und Übungsfeld.

Ohne solchen geschützten Lehr-Lern-Rahmen mag es Lehrenden, die jahre- oder jahrzehntelang v. a. traditionelle Frontal-Unterrichtsmethoden eingesetzt haben und nun situative Lernprozesse in Gruppen praktizieren sollen, so vorkommen, als rasten sie bei sich öffnender Sachdynamik einer Gruppe wie auf Inlineskates ohne Bremsen einen steilen Hang hinunter, ohne abschätzen zu können, wie und ob es da unten überhaupt weitergeht...

Es ist nachvollziehbar, wenn Verantwortliche in Bildungs-Prozessen hier Risikominimierung betreiben und sich nicht unerfahren auf ein so unübersichtliches Gelände wagen wollen. Sie vermeiden damit auch, sich auf Experimente einzulassen, die unter Umständen mehr Schaden als Nutzen für die Teilnehmenden bewirken könnten.

Tatsächlich führten viele begeisterte, aber didaktisch unausgewogene gruppendynamische Experimente Ende der 1970er-Jahre zu Effekten, die leider in der Folge viele Professionelle gerade im schulischen und auch außerschulischen Bildungs-Sektor von prozessorientiertem oder gruppendynamisch fokussiertem Arbeiten mit Gruppen Abstand nehmen ließen.

„Nach einer gewissen ‚Boom-Phase‘ in den siebziger Jahren flachte das Interesse am Stichwort ‚Prozessorientierung‘ merklich ab, insbesondere dort, wo nur teilweise oder gar nicht ausgebildete Leiter ihr persönliches Bedürfnis gestillt hatten, einmal mit Gruppen ‚etwas zu erleben‘. Dort, wo qualifiziert mit gruppendynamischen Konzepten operiert wird, steigerten sich in den letzten Jahren Praxis- und Theorie-Niveau beträchtlich. Ich denke dabei vor allem an den Bereich der beruflichen Weiterbildung, insbesondere im industriellen und dienstleistungsbezogenen mittleren Management.“ (s. 2)

Konzepte der Situationsdynamik reagierten u. a. mit anders gewichteter Theorie- Arbeit auf diese Phänomene und begegnen didaktisch anspruchsvollen Themen auch heute theoretisch kritisch mit variablen Arbeitsformen. Insofern kann SD auch als theoriebildend sachdynamische Konsequenz aus oben beschriebenen zeitgeschichtlichen Bildungsphänomenen betrachtet werden. (s. 3)

SD fordert in allen ihren Arbeitsformen dazu auf, dass in der didaktischen Praxis ihrer Lehr- und Lernprozesse immer auch die möglicherweise vielfältigen Sach-Logiken der Teilnehmenden als Basis des Lernens für alle Beteiligten zugänglich gemacht werden. Das sind die bewährten fundierten Lebens-Theorien von Menschen, die sich in Bildungsprozesse begeben und als in der Universität des Lebens Erfahrene auch gehört und gesehen werden möchten. Daraus erst kann sich sachdynamisch kommunikative Kraft in Lehr- und Lernprozessen entfalten.

Wenn man also fragt, wie denn sachdynamische Kompetenz in der angewandten SD aufzufassen ist, könnte man grundlegend sagen:

So wie Bildungs-ExpertInnen ihre (immer auch lebensgeschichtlichen) Bezüge theoriegeleiteten Handelns hier und jetzt agogisch (=lehrend und lernend) praktizieren, tragen sie zur Vertiefung und Erweiterung der Wahrnehmung von Sache(n) und folglich zur Sachdynamik in der Situation bei. So wie sie es tun, wird es sich auswirken.

Erfolge, Effekte und Ergebnisse werden von den Teilnehmenden festgestellt und geprüft werden. So bleibt auch die Definitionsmacht für das Gelingen der Sach- Kommunikation bzw. des Lernens bei denen, die von der Leistung der lehrenden, beratenden bzw. bildenden professionellen Person profitieren möchten.

So wird auch die Anforderung, sich an Erwartungen der Teilnehmenden zu orientieren, spätestens bei der qualitativen Einschätzung der Veranstaltung durch die Teilnehmenden auf praktische Füße gestellt, wodurch Bildungs-Profis zur Fortsetzung ihrer eigenen Lernprozesse durchaus angeregt oder sogar nachdrücklich aufgefordert werden können.


aus: "Situationsdynamik - Guck doch mal, wie Du guckst! Wer situativ beobachtet, weiß weniger und sieht mehr...", S. 158 ff., Saarbrücken, 2011  

Christiane Schmidt, Supervisorin (SD), Trainerin (SD)



1. Christiane Schmidt, "Situationsdynamik", Rund um die Situation: SD und Bildungspolitik als Grundlagen emanzipatorischer Arbeit?, S. 18
2. H. Euschen, "Alltagsbezogene Agogik, Grundlagen einer situativen Didaktik", Ludwigs¬hafen, 1983, S. 95
3. Christiane Schmidt, "Situationsdynamik", Der Wir-Aspekt und seine Dynamik: Normativität in Bildungsprozessen, S. 102 ff. .