Alternativen in der Klassengesellschaft


Liebe Maria,
ich will mich endlich einmal bei Dir bedanken, daß Du mir immer wieder Eure "Vorläufigen Texte" zukommen läßt. Ich finde das wirklich ganz lieb, daß Du mich noch nicht aus der Adressenliste gestrichen hast, obwohl ich ja schon ewig kein Lebenszeichen gegeben habe. Immerhin lese ich die "Vorläufigen Texte" mehr oder weniger aufmerksam; da ich zur Zeit krank geschrieben bin, will ich die Zeit nutzen, ein paar Sätze zu schreiben.

Ich will dabei vor allem anknüpfen an das, was Herbert in 1/87 gschrieben hat: Was ist und wem nützt Situationsdynamik? Ich kann dabei keine angemessene Auseinandersetzung mit diesem Artikel liefern - darum geht es mir auch nicht. Ich kann dieses Theorie-Praxis(?)-Konzept auch nicht angemessen diskutieren - für die Mühe, die ich dabei aufwenden müßte, ist mir das alles zu weit weg. Trotzdem. Ich muß einfach ein paar Sätze dagegenhalten, aus meiner persönlichen "Alternative".

Wenn ich richtig verstanden habe, daß "Situation" eine objektive und eine subjektive Seite hat, dann betrachte ich die gelieferte Analyse der objektiven Seite der Situation DES Menschen als falsch. Die Menschen - über 80% der Menschen in der BRD befinden sich in der objektiven Lage, in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis zu stehen bzw. von einem so abhängig Beschäftigten abhängig zu sein. Selbst die Arbeitslosen sind trotz "Freistellung" davon abhängig.

Diese industrielle Arbeitsgesellschaft befindet sich zwar im Wandel, was die Formen der Produktion betrifft, aber sie wandelt sich keineswegs zu einer "nachindustriellen Gesellschaft, Informationsgesellschaft, Dienstleistungsgesellschaft, Bildungsgesellschaft" oder wie sonst. Solche Analysen verschleiern ganz einfach den Sachverhalt, daß es das Kapital versteht, die Ausbeutung der Abhängigen mit sublimeren Mitteln zu verschärfen! Wem eine solche verschleiernde Analyse nützt, beantwortet sich dann auch von selbst.

Unser alter Kapitalismus wandelt sich auch nicht in eine Freizeitgesellschaft. Der jetzt schon fast 10 Jahre dauernde Kampf um die 35-Std.-Woche ist der Beweis. Mit allen Mitteln versuchen die Arbeitgeber ihre Verfügungszeit über die Abhängigen zu verteidigen und sogar auszudehnen! Bestes Beispiel ist die sog. Kapovaz. (Kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit) Sie wissen sehr wohl, daß es nicht allein um ein par Stunden Freizeit geht. Jede Minute, die ein Arbeitnehmer nicht in seiner unmittelbaren Abhängigkeit verbringen muß, birgt zumindest die Gefahr, daß er seine gewonnene Freizeit als Freiheit begreifen lernt und damit seine Un-Freiheit im Arbeitsverhältnis als die Fessel seines Lebens begreift.

Nicht von ungefähr versuchen die Konzerne vehement in diesen "Freiraum" hineinzukommen. Die Entwicklungen in unserer Medien-Landschaft - wie das so schön heißt - ist dann kein Hinweis auf die Entwicklung zur Informationsgesellschaft (das klingt so schön positiv), sondern ist der massive Versuch, über die Medien (Privatfunk und -fernsehen) diesen "Freiraum" der Abhängigen auch noch zu besetzen. Denn wie wird denn informiert? Wo und wie werdet Ihr informiert über die täglichen Kämpfe der bewußten Arbeiter? Z.B. gegen die "Öffnung der starren Ladenschlußzeiten", die eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen mit sich bringt und nur den Profiten der Konzerne dient? Z.B. gegen die Vernichtung vonm Arbeitsplätzen; Hattingen und Rheinhausen sind doch nur Spitzen des Eisberges? Z.B. gegen die täglichen Versuche über psychischen Druck, Drohungen bis zu Kündigungen, Verleumdungen usf. die Arbeiter, die Widerstand zu organisieren suchen, kleinzuhalten? Nichts von alledem.

Unsere Gesellschaft ist und bleibt vorläufig eine kapitalistische Klassengesellschaft mit bestimmten Differenzierungen und Modifikationen. Der Wandel, der tatsächlich ansteht, ist die politisch-demokratische Festschreibung dieser Verhältnisse in der 2/3-Gesellschaft. Ich brauche Euch das im Einzelnen sicher nicht zu erläutern. Von daher hat sich meine offensiv sozialistische Perspektive in einen zur Zeit eher defensiven Kampf gewandelt - ohne die Perspektive aus den Augen zu verlieren. Aber die Arbeiterklasse muß sich zur Zeit dagegen wehren, weitere Verschlechterungen ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen aufgezwungen zu bekommen (Gesundheitswesen, sog. Steuerreform, Novellierung des BetrVG).

Alternative Erwachsenenbildung ist für mich nur dann alternativ, wenn sie diesen Kampf der Arbeiterklasse unterstützt - also ein bißchen mehr als bio-... Ich stelle jetzt für mich selber fest, daß ich mich in dieser Meinung nicht gewandelt habe. Nachdem ich alles nochmal gelesen habe, bin ich wieder unsicher, was Ihr damit anfangen könnt. Aber das laß' ich jetzt Eure Sorge sein.
... jetzt schon die besten Wünsche für das Neue Jahr. Vielleicht ergibt sich doch mal die Gelegenheit, daß wir uns wiedersehen.


aus: "Vorläufige Texte", "Alternativen in der Klassengesellschaft", S. 1 f., Münster, Dez. 1987  

Hans Weinand