Am Ende alles Alternativen?

An die Mitglieder der IAEL-Gruppe

 

...Zunächst hat es für mich eine Schreibschwierigkeit gegeben (nimmt Bezug auf einen früheren Beitrag)... Denn was bei dem Versuch, "Privates" öffentlich zu sagen, herauskam, war ein Stück Sprachlosigkeit und Unklarheit. Ich wil mich also darum bemühen, die Trennung von individuellen, kommunikativen, sozialen und sachlichen Aspekten ein Stück aufzuheben.

In Limburg hat Herbert im Herbst 1986 die Frage nach dem Ende der Alternativen aufgeworfen, und diese Frage hat mich seither verstärkt beschäftigt. Für mich war es interessant mitzuerleben, wie eine Bewegung um sich greift, öffentlich wird und langsam wieder aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwindet. Allmählich mußte die Alternativbewegung anderen "Modeströmungen" weichen, u.a. der "Esoterik-Welle", den Yuppies, befördert durch eine neue Regierung in Bonn, die sich darauf versteht, Konflikte wie Arbeitslosigkeit, Umweltschutz und Rüstung beharrlich zu ignorieren. Alternativ-Sein ist "out" - nur eine Mode?

"Im IAEL gab es nie eine Alternative Lebensform", schreibt Herbert(3.) und er mag Recht haben in dem Sinn, daß niemand aus der IAEL-Gruppe einen Bauernhof gekauft oder ein Alternatives Bildungszentrum gegründet hat. Inwieweit M. ihr Zusammenleben mit K. als "alternativ" versteht, wäre für mich ebenso eine Frage wie inwieweit Konzepte von "Alternative" in die Arbeit des Einzelnen eingeflossen sind. Auf einer anderen Ebene hat sich der Gebrauch des Wortes "alternativ" erübrigt, weil vieles selbstverständlich und Allgemeingut wurde, woran sich früher das Alternative knüpfte, z.B. das Müsli am Morgen.

Das IAEL ist auf der Alternativwelle mitgeschwommen und muß sich nun fragen, ob - angesichts des Verebbens dieser Welle - auch das IAEL-Projekt dran glauben muß. Muß es das? Herbert diagnostizierte damals, die Gruppe befände sich in einer "depressiven Abwehr" und sei nicht in der Lage, zu dieser Zeit darüber zu sprechen. Nun ist es, so finde ich, Zeit, darüber zu sprechen, da das Neue (DGSD) das Alte (IAEL) zu fressen scheint. Ursulas Bemerkung am Wiedener Eck (1987), dann könne man ja die Gruppe dicht machen, so habe ich ihre Aussage im Kopf, geht in diese Richtung. Herbert schreibt: "Unsere Aufgabe ist es nicht, reaktionär an der Handlungstheorie herkömmlicher Art festzuhalten, sondern die neue Stufe, das systemische Denken, ... zu überwinden und aufzuheben." (6.5)

Ich weiß, diejenigen in der IAEL-Gruppe, die nicht der Untergruppe der "Organisationis" zugehören, haben bei den letzten Treffen, wenn es ums Inhaltliche ging, ziemlich stumm dagesessen. Meine eigene Stummheit ist erst allmählich einem Sprechen gewichen, das sich freilich in seinem "Denken" nicht in Konzepten und Begriffen ausdrückt, sondern ganz allmählich über Bilder z.B. seine Gestalt gewinnt. Es gibt, so steht zu vermuten, in der Gruppe unterschiedliche Denk- und wie M. nachher im Zug auf der Heimfahrt vom Wiedener Eck sagte, "Lebensstile".

Eines dieser Bilder, die mir bei einem IAEL-Treffen kamen, war die Vorstellung von den beiden Häusern. Und über diese möchte ich jetzt etwas schreiben. Meine Grundhaltung dabei ist beharrend ("reaktionär"?), distanziert gegenüber dem "Neuen" und das Alte (IAEL) das Neue (DGSD) prüfend.


Die zwei Häuser, der Umzug

 

Derzeit ist eine neue Modewelle im Schwange, "New Age" genannt. Ohne diese jetzt im Detail beschreiben zu wollen, fällt doch auf, daß sie einem neuen Optimismus frönt. "Wenn wir nur vernetzt und ganzheitlich denken sowie das neue Bewußtsein erlangen, dann ist die Welt noch zu retten!" So könnte man in etwa verkürzt die Bewegung beschreiben. Was mir an dieser Bewegung auffällt, ist, daß sie an Denkern vorübergeht, die der Macht der Vernunft recht skeptisch gegenüber gestanden haben, nämlich Marx, Freud und Nietzsche. Stattdessen verkörpert das "New Age" Optimismus auf allen Seiten, indem es Sinn Ganzheit und Zukunft verspricht. Diese Ressourcen scheinen knapp geworden zu sein. Hierher gehört auch für mich, daß C.G. Jung und seine Traumdeutung sich gegen Freud durchgesetzt hat, vielleicht weil im Sinne Jungs der Traum uns noch die Ganzheit verspricht, die uns verloren gegangen zu sein scheint und ich mir wünschte, jemand könnte mir diese Bevorzugung richtig erklären.

Der Zusammenhang zum Ansatz der "Situationsdynamik" besteht nun darin, daß ich behaupte, daß ...1. dieser Ansatz Teil des "New Age"-Denkens ist und daß es 2. Aufgabe eines "Alternativen Denkens" ist (und war), Distanz zu gegenwärtigen gesellschaftlichen Vorgängen zu halten. Das heißt natürlich auch, Distanz zur "Situationsdynamik" als Teil der "Front"(7), von der Herbert in seinem Aufsatz spricht. Nun wird sicherlich zu fragen sein, was das mit der Gruppe zu tun hat bzw. wie sich das dort verwirklichen ließe.

Eine erste Antwort von meiner Seite könnte lauten, daß wir einmal über Kommunikationsformen in der Gruppe sprechen. Wir haben ja in letzter Zeit mehrfach die "Organisationis" sozusagen "bei der Arbeit" erlebt. Da ging es zum Beispiel in Münster darum, Spannungen in der Gruppe zu begreifen bzw. zu verstehen. Am Wiedener Eck ist es mir passiert, daß ich den Eindruck gewann, diese unsre Untergruppe würde zu einem "Trainingsspiel" auflaufen, bei dem es darum ginge, einander möglichst schnell Erkenntnisse über Gruppenprozesse und Organisationen zuzuwerfen, wobei, um im Bild zu bleiben, die anderen die Balljungen spielten oder ganz draußen, also Zuschauer waren.

Eine Frage, die sich mir hier stellt, ist: Inwieweit ist dieses Wissen mit dem je eigenen Leben vermittelt, verbunden bzw. überhaupt vermittelbar? Inwieweit kann das Begreifen von Situationen überhaupt verändern? Inwieweit hat das Begreifen der IAEL-Gruppensituation zu einer Veränderung geführt? Hat es eine solche überhaupt gegeben? W. und M. fehlen in Prato: Kann dieses Thema als bereinigt gelten? Stichwort Prato: Da wird in Prato über "Freizeit" nachgedacht, aber gegönnt haben wir uns einen Nachmittag. Am Wiedener Eck wird mir zurückgemeldet, in Italien hätte ich so gut wie nur über das Stottern geredet, sagten die "Organisationis", auch davon hängt mir noch etwas nach ...

Das alte Haus, das IAEL-Haus, was ist damit? ist es fertig, überholt? Die beiden Grundpfeiler, auf denen es bisher stand und steht, sind der Begriff "Alltag" und der Begriff "Alternative". Herbert behauptet in seinem Beitrag VT 11 (Vorläufige Texte, 11), daß der "Alltags"-Begriff durch den der "Situation" erweitert worden sei und daß es sich hier um eine kontinuierliche Weiterentwicklung handelt. Ich habe hingegen den Eindruck, daß dem nicht so ist, wobei ich das nicht an Herberts Texten direkt festmachen kann. Wir, das sind K., M. und ich, haben in einer Jerusalemer Kneipe in der Altstadt darüber diskutiert, während über unseren Köpfen ein lauter Fernseher tönte, und ich erzähle das, weil ich mich noch gut daran erinnere. Auch dort habe ich es nicht richtig sagen können. Hier nun ein weiterer Versuch:

Für mich teilt sich der Begriff "Alltag" in zwei Teile: Der erste ist der Alltag als Mittel, um eine Struktur zu bilden: "Alltag in der Industriegesellschaft ist gekennzeichnet durch Routinen und deren Nachbewußtsein", so schreibt Herbert in VT3. Im Versuch, nun das Ganze zu begreifen, wozu der Begriff der "Situation" herangezogen wird, geht nun die "Alternative" verloren. Zunächst in einem ganz wörtlichen Sinne: Der Begriff "Alternative" hat im Ansatz der "SD" keinen Platz. Aber auch: Es gibt zum Alltag, dem Werktag (oder ist das "falsch" übersetzt?) eine Alternative: den Sabbat, den Sonntag. Zur Situation gibt es jedoch keine Alternative, was vielleicht auch beabsichtigt ist, da alles "begriffen" werden soll.

Was mich nun wundert, ist, daß mich das eigentümlich rührt und zugleich wieder an die Debatte zwischen Freud und Jung erinnert. Die Frage ist hier für mich: Gibt es noch Unbegriffenes? Unbegreifbares? Bei Freud möchte ich aufgrund meiner geringen Kenntnisse sagen: nein (vor allem, was seine Schüler betrifft). Gibt es das noch: das Fremde? Nachdem wir die äußere Welt geplündert haben, gehen wir nun daran, die "Kraftreserve Unterbewußtsein" (wie ein Buchtitel lautet), uns zu eigen zu machen.

"Alternativ leben" heißt hier für mich: die Distanz zu wahren, und, etwas pathetisch gesagt, kritisch zu befragen das, was gegenwärtig ist. Zu diesem rechne ich den Ansatz der SD, den das IAEL entwickelt hat und nun zu entlassen und kritisch als ein Kind seiner Zeit zu befragen hat. Dass der Ansatz der SD ein wichtiger und hilfreicher ist, steht dabei für mich außer Frage.

Ich frage mich zum Abschluß, ob es nicht ein Gemeinsames gibt zwischen den "Therapeutis" und den "Organisationis". In einer Zeit großer Unübersichtlichkeit und sich zunehmend differenzierender Lebenstile gibt es zumindest zwei Versuche, die Einheit der Welt wieder herzustellen: zum einen der auf Rationalität beruhende Versuch der "Organisationis", Struktur in das Chaos zu bringen, also die sich zersplitternde Realität unter ein Dach zu bringen. Zum anderen gibt es den Versuch der "Therapeutis", den Weg nach "innen" zu gehen in dem Bestreben, auf diese Weise Einheit wieder herzustellen mit sich und der Welt. Beide sind in Hinblick auf ihre Ziele optimistisch.

Sie unterscheiden sich jedoch in den Wegen, die sie gehen, um umzulernen. Die Therapeutis sind prozeß-orientiert, Routinen im Leben sollen durch tiefgreifende neue Erfahrungen veränderbar werden, abstraktes Wissen hilft hier wenig, die mögliche Wende kann nicht erdacht werden.

Die Organisationis sind struktur-orientiert. In Herberts Worten: "Nicht die innere Auseinandersetzung mit der Idee führt uns zur Befreiung von diesem Klebzeug, sondern die äußere-innere Auseinandersetzung mit den Institutionen, das heißt mit deren sichtbarer Organisationsform." (6.4) Wir haben die Struktur der IAEL-Gruppe begriffen. Aber was hat sich dadurch verändert?

Zu allerletzt noch zwei Zitate, die mich in diesem Zusammenhang interessieren und die eigentlich auch beide Gruppen betreffen, da sie ja das Ziel "Integration" bzw. "Einheit" oder "Ganzheitlichkeit" gleichermaßen haben:

"Ein System, das von seinen Teilnehmern zugleich beherrschte Arbeit und hemmmungslosen Konsum erwartet, ist verrückt und geht in die Luft, wenn es nicht gelingt, seine Subjekte auf die Stufe der Gefühlslosigkeit zu drücken." (Adolf Muschg, "Literatur als Therapie?", Frankfurter Vorlesungen, 1981, S. 75)

"Wenig fehlt, und man könnte die, welche im Beweis ihrer quicken Lebendigkeit und strotzenden Kraft aufgehen, für präparierte Leichen halten, denen man die Nachricht von ihrem nicht ganz gelungenen Ableben aus bevölkerungspolitischen Rücksichten vorenthielt. Auf dem Grunde der herrschenden Gesundheit liegt der Tod." "Keine Forschung reicht bis heute in die Hölle hinab, in die die Deformationen geprägt werden, die später als Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit, Umgänglichkeit, als gelungene Einpassung ins Unvermeidliche und als unvergrübelt praktischer Sinn zutage kommen." (Th.W.Adorno, "Minima Moralia", S. 69 f.)

Nach diesem philosophischen Höhenflug möchte ich nun wieder zurück zur Gruppe und zum Bild der beiden Häuser. Es gibt von Seiten der Organisationis ein Unverständnis darüber, daß Teile der Gruppe nicht sogleich in das neue Haus mit umziehen wollen. Dieses kommt mir bekannt vor. Es erinnert mich an das Studium, in dem die Vertreter des "Kritischen Rationalismus" der klassischen Philosophie vorgeworfen haben, daß sie so furchtbar unpraktisch sei, wo sie doch...

Mit diesem Beitrag möchte ich eigentlich etwas für Verständnis bei den Organisationis werben dafür, daß ich (hier kann ich nicht für die anderen mitsprechen) das alte Haus nicht verlieren möchte, wenn ich auch dem neuen Haus einiges abgewinnen kann. Und ich habe mit diesen Seiten, die ich geschrieben habe, wie sie mir eingefallen sind, etwas von der Sprachlosigkeit überwinden wollen, unter der ich z.B. am Wiedener Eck gelitten habe. Meine Art zu denken ist vielleicht nicht zeitgemäß, da sie langsam ist. Ich sehe jedoch für mich selbst ein Stück klarer und hoffe, daß das anderen in Saarbrücken kommendes Wochenende auch so ergeht.
Bis Saarbrücken, Erhard


aus: "Vorläufige Texte", "Am Ende alles Alternativen?", S. 5 ff., Münster, Dez. 1987  

Erhard Hennen